Kapitel 30

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Eine unglaubliche Ruhe herrschte, als wir die Medizinabteilung betraten. Meine Hand ruhte immer noch auf der Waffe, die ich unter meinem langen T-Shirt versteckte. Die Wände hier waren genau so weiß und kahl, wie die des Krankenhauses, nur kam mir dieser Raum viel grusliger vor. Es erinnerte mich an die vielen Horrorfilme, die ich mit Rick gemeinsam geschaut hatte, in denen ein Monster aus der nächsten Ecke sprang und die Schauspieler mit einer Kettensäge angriff. Ich bezweifelte, dass so etwas hier passieren könnte.

Wir kamen gut voran, ohne auch nur einem Menschen zu begegnen. Hier arbeiteten wohl nicht so viele Leute. "Wir werden erst auf Mitarbeiter stoßen, sobald wir in eines der Labore treten", flüsterte die Frau. Ein Blick auf ihr Schildchen verriet mir ihren Namen. Paige Summers.

Ich war froh über ihre Worte. Je weniger Menschen wir bedrohen mussten, desto weniger schuldig fühlte ich mich. Wir folgten Paige, ganz egal in welche Richtung sie abbog. Sie schien zu wissen, wo es langging und ich war mir sicher, es war auch nicht ihr erster Versuch, an das Heilmittel zu kommen. Nicht wenn sie genau so verzweifelt war, wie ich. Und das war sie. Sie musste genau so wütend sein wie ich. Zu wissen, dass es ein Heilmittel gab, es aber nicht genutzt werden durfte, weil es zu viele Risiken mit sich brachte, war grausam.

"Wir werden unsere Waffen erst ziehen, wenn es auf die andere Art nicht funktioniert", erklärte Rick und ich nickte ihm zustimmend zu. Ich glaubte jedoch nicht, dass sie uns das Heilmittel einfach aushändigen würden. Nein, definitiv nicht. "Es wird aber dazu kommen. Was glaubt ihr, wie oft ich schon darum gebeten habe? Ich habe dabei einfach nur gegen eine Wand gesprochen." Paige klang nicht wütend, sondern einfach nur fassungslos. Keiner von uns konnte verstehen, wie man einer Mutter so etwas verweigern konnte. Mit diesem nein hatten sie ihr klargemacht, dass sie nur darauf warten musste, bis ihre Tochter starb und nichts dagegen tun könnte.

Paige blieb vor einer geschlossenen Tür stehen und drehte sich zu uns um. "Hier ist es. Hier wird das Heilmittel aufbewahrt." Meine Hand an der Waffe zitterte. Das war meine letzte Chance. Die letzte Chance für Alaya und ich durfte es nicht vermasseln.

Ich warf meinem besten Freund einen Blick zu, der ohne zu zögern die Tür öffnete, die mit einem heftigen Schwung gegen die Wand prallte. Der Blick der Frau, der augenblicklich auf uns lag, wirkte überrascht. Sie hatte also nicht mit uns gerechnet. Luis hatte auf seinen Boss gehört. Den Stift in ihrer Hand, ließ sie auf die Dokumente vor sich fallen und wandte ihren Blick dabei nicht ab.

"Paige? Was suchst du hier und wer sind die beiden Männer hinter dir?" Sie kam geradewegs ein paar Schritte auf uns zu und legte eine Hand auf Paiges Schulter. Diese schüttelte sie sofort herunter. "Du weißt, wieso wir hier sind." Endlich konnte ich Paige ansehen, wir sauer sie war. Die Frau vor ihr atmete hörbar aus und ließ ihren Bick über Rick und mich schweifen. "Du weißt, ich kann es dir nicht geben." Gespielt bedrückt, wollte sie Paige erneut eine Hand auf die Schulter legen, doch diese fing sie noch in der Luft ab. Paiges Hass auf die Frau ihr gegenüber, war deutlich zu spüren.

"Ihr solltet jetzt gehen." Ich konnte es sofort in ihren Augen sehen. Sie scherte sich einen Dreck darum, dass Paiges Tochter im Sterben lag. Der Griff um die Pistole verstärkte sich wie automatisch. So leicht würde sie uns nicht loswerden und uns schon gar nicht einfach wie Abfall rausschmeißen. Wie auch zuvor bei Luis, zog ich meine Pistole in nur einer Sekunde. Erschrocken wich die Schreckschraube einen Schritt zurück. Bei ihr empfand ich keine Reue, für das was ich tat. "Was sagen sie jetzt?" Meine eigene Stimme kam mir fremd vor. Rick gesellte sich neben mich, auch mit erhobener Waffe. Wir waren an der Macht.

"Jade ich habe-" Der Mann verstummte und lies die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Erschrocken blickte er zwischen Rick und mir hin und her. "Was ist hier los?" Er versuchte ruhig zu klingen, doch es gelang ihm ganz und gar nicht. Er hörte sich an, als würde er sich vor mir verbeugen, wenn ich noch einen Schritt näherkam. "Sie wollen das Heilmittel", stotterte die Frau und krallte sich dabei an dem Tisch hinter sich fest. Angst hatten wir ihr schon einmal eingejagt.

"Wir können es dir nicht geben, Paige." Die Stimme des Mannes war ruhig, aber bestimmend.

"Unsinn!", rief Rick und umschloss die Pistole fester. "Es wurde nicht genug getestet", sprach die Frau weiter und suchte nach weiteren Ausreden. "Was ist das für ein Argument? In spätestens zwei Tagen werden alle tot sein, die sich an dem Virus infiziert haben. Welches Risiko scheint größer für Sie zu sein?" Man konnte meinen, ich brüllte schon. Ich war außer mir und wollte am liebsten den nächsten Schrank zu Fall bringen.

Einladend mir das Heilmittel in die Hand zu drücken, streckte ich ihr meine freie Hand entgegen, doch sie schüttelte nur weigernd den Kopf. "Sie werden mich nicht erschießen." Nicht so sicher wie ihre Worte, rückte sie näher an den Tisch. Sie hatte keine Ahnung, was ich für dieses Heilmittel bereit war zu tun.

"Meine Freundin liegt seit Monaten mit furchtbaren Schmerzen im Bett und leidet ständig. Ich werde sie nicht sterben lassen. Also glauben sie wirklich, dass ich sie nicht erschießen würde, nur um an das Heilmittel zu kommen?" Die Frau schluckte bedächtig. "Wenn sie das tun, wird die Polizei in wenigen Minuten hier sein und sie fassen."

"Vielleicht. Aber für sie wird es schon zu spät sein." Diese Worte schienen etwas in ihr und dem Mann auszulösen. "Okay, sie bekommen es", stotterte er hastig. Paige neben mir wirkte wie verstummt und suchte nach den richtigen Worten.

"Ihr wusstet ganz genau, dass meine Tochter im Sterben liegt und habt mir das Heilmittel trotzdem jedes Mal verweigert. Ganz egal wie sehr ich gebettelt habe." Paiges brüchige Stimme lässt nur erahnen, wie sauer und gekränkt sie war. "Ihr seid furchtbar. Ihr interessiert euch nur für euern Job, der am Ende so viele Menschenleben gekostet hat."

Die Frau und der Mann standen nur stumm da, keinen blassen Schimmer, was sie sagen sollten. Ich glaubte trotzdem nicht, dass sie ihre Taten bereuten. "Also her mit dem Heilmittel!" Vereinzelte Tränen liefen ihre Wangen hinab. Mit schnellen Schritten war die Frau an einem kleinen Schrank angekommen, öffnete ihn und holte zwei Fläschchen daraus. "Woher wissen wir, dass es die richtigen sind?" Ich war sicherlich nicht so dumm, diesen Fehler zu begehen. Ohne einen Beweis, verschwand ich nirgendswo hin.

"Sie können die hinten abgebildete Nummer im Computer überprüfen", flüsterte sie widerwillig. Ich folgte Paige, die die Nummern eintrug, die ich ihr vorlas. Ich hatte schreckliche Angst das Fläschchen fallen zu lassen, wollte die Pistole aber sicherlich nicht hergeben.

"Es stimmt." Ein sanftes Lächeln schlich sich auf Paiges Lippen. Mein Herz klopfte wie verrückt. Seit so vielen Tagen war ich unterwegs, nur um das Heilmittel in den Händen zu halten. Endlich war es in meinen Händen und es fühlte sich an wie eine Befreiung. Ein Teil der Last fiel von meinen Schultern. Ich reichte eines der Fläschchen Paige, welches sie dankbar entgegennahm. Wir beide hatten heute das bekommen, was wir am meisten wollten.

"Ich brauche noch eins." Ich hatte nicht die Mutter vergessen, der ich versprochen hatte, ihren Sohn Jeremy zu retten. Zögerlich griff sie nach noch einer Flasche. Paige überprüfte sie und drückte sie mir anschließend in die Hand. Meine Waffe umklammerte ich immer noch fest, als von draußen Sirenen ertönten. "Mist!", fluchte Paige. Luis hatte wohl doch die Polizei gerufen.

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