Kapitel 33

38 3 0
                                    

Mit meinen Augen scannte ich die völlig zerstörte Gegend vor uns ab. Was hier passiert war, konnten auch die professionellsten Bilder in den Nachrichten nicht beschreiben. Ein großer Riss zog sich von einer Straßenseite bis zur nächsten und zwang mich, auf die Bremse zu treten. Während vor wenigen Stunden nichts weiter, als fliehende Menschen zu sehen gewesen war, wirkte es plötzlich totenstill auf mich. Die Straßen waren leer und bis auf brennende und eingestürzte Gebäude war nicht mehr viel zu sehen.

Ab hier würden wir mit dem Auto nicht weiterkommen und dabei waren wir noch einen Kilometer von Claudia entfernt. Innerlich hoffte ich, dass sie noch am Leben waren, auch wenn das von hier unmöglich aussah. Ich hatte noch keinen Plan, wie wir sie zwischen all den Trümmern, die noch zurückgeblieben waren, jemals finden sollten.

Ich zog die Handbremse und stieg aus. Ich hatte das Gefühl, mein Mageninhalt wollte wieder heraus, als ich erkannte, wer an manchen Straßenrändern lag. Ich bekam eine Gänsehaut und schaffte es schließlich doch, meinen Blick von den grausamen Taten abzuwenden, die Sam verrichtet hatte. Aus Rache. Weil er krank war. Weil er vollkommen irre war. Und ich hatte es damals nicht bemerkt. Schuldgefühle nagten an mir, doch ich wusste, sie würden mir in dieser Situation nicht helfen.

Seit einer Stunde waren keine neuen Nachrichten mehr über die Zerstörung Las Vegas eingegangen. Es war still geworden und trotzdem lag der Geruch von dem Untergang noch in der Luft. Er spiegelte alles wieder, was in den letzten Stunden passiert war. Wie auch immer man das jemals beschreiben sollte.

Ich blickte hoch, direkt auf ein großes Gebäude, aus dem Rauch emporstieg. Es brannte. Während ich für diese Menschen auf der Straße nichts mehr tun konnte, könnte es vielleicht noch für die Menschen in diesem Gebäude reichen und wenn ich eins wusste, dann, dass wenn Claudia und ihre Familie noch am Leben war, sie sich wohl in diesem aufhalten mussten. Nichts Anderes war im Umkreis von zwei Kilometern mehr übrig. Wahrscheinlich war in der ganzen Stadt nichts weiter übrig.

"Wir müssen dort hin, Rick." Ich wartete nicht auf ihn, denn er würde mir folgen. Der Riss war schmal genug, dass ich mit einem kleinen Sprung auf die andere Seite gelangte. Rick war mir dicht auf den Fersen, während ich dem Rauch folgte. Eine ganze Weile lief ich in einem Tempo, das man schon als Rennen bezeichnen konnte, doch dann ging auch mir die restliche Kraft aus.

Die letzten hundert Meter waren wie eine Erlösung und dann gab es keinen Halt mehr. Während das untere Geschoss schon lichterloh brannte, war es ab dem zweiten Geschoss noch vollkommen unbeschädigt. Je näher ich kam, desto lauter vernahm ich die nach Hilfe rufenden Stimmen, die verzweifelt ihre ganze Kraft dafür einsetzten. Doch es war zu hoch. Wie verdammt sollte ich dort hochkommen? Planlos raufte ich mir die Haare und blickte zu Rick, der den Blick aufgesetzt hatte, den ich so gut kannte. Er hatte eine Idee. Eine riskante Idee. Aber es war eine Idee.

"Na, los, spuck es aus, Rick!", rief ich ungeduldig. Er zögerte und das zurecht, aber wir hatten nicht mehr viel Zeit. "Du musst klettern, Chris." Ich schluckte. Das würde sicherlich kein Zuckerschlecken werden. Es gab nicht viele Möglichkeiten, wie oder wo ich mich festhalten oder abstützen sollte. Ab einer gewissen Höhe bedeutete Abrutschen meinen sicheren Tod.

"Und wie soll ich die Leute dort rausbekommen?" Vielleicht könnte ich reinkommen, aber unmöglich, dass ich es mit so vielen Menschen über den gleichen Weg auch wieder herausschaffte. "Du nimmst ein Seil mit." Von welches Seil sprach Rick? "Warte hier." Ich schaute ihm hinterher, doch er rannte schon los.

Vier Menschen hatten sich bereits auf dem kleinen Balkon gesammelt und als ich Claudia und ihren Sohn sah, beruhigte sich mein Herz für einen Moment. Sie waren noch am Leben. Chris? Als glaubte sie nicht, dass ich es wirklich war, rieb sie sich über das mit Ruß bedeckte Gesicht.

"Ich bin es. Macht euch keine Sorgen, ich komme zu euch hoch." Wie ich es anstellen sollte, wusste ich zwar selbst noch nicht, aber es sollte sie wenigstens beruhigen. Nervös beobachtete ich das Feuer dabei, wie es immer höhere Flammen schlug. Wo blieb Rick nur? Rick schien meine Rufe erhört zu haben, denn nur eine Minute später flitzte er zu mir und hatte tatsächlich ein Seil in der Hand. Verblüfft atmete ich aus und nahm es ihm aus der Hand.

"Woher hast du das denn jetzt?" Rick wies mit seinem Zeigefinger auf ein anderes Gebäude. "Es haben sich wohl vorhin Leute mit dem Seil aus dem Gebäude gerettet. Ich habe es schon als wir vorbeigelaufen sind gesehen."

"Du bist ein Genie!", lobte ich meinen besten Freund. "Jetzt nichts wie hoch da." Meine eigentliche Angst war verschwunden. Ich konnte es schaffen. Nach all den Dingen die wir erlebt hatten, konnte ich alles schaffen.

Wie eine Schlange, die sich um meinen Oberkörper schlang, wickelte ich das Seil um mich und steckte das Ende in meine Hose, damit ich es beim Klettern auch wirklich nicht verlor. Rick streckte mir beide Daumen entgegen, auch wenn ich seinen beunruhigten Blick förmlich auf mir spüren konnte. Aber das konnte er nicht für mich übernehmen. Er konnte besser mit Autos und ich war ein definitiv besserer Kletterer.

Mit einer Räuberleiter stemmte mich Rick soweit hoch, dass ich die Flammen nicht berührte. Ich streckte mich nach dem herausstehenden Backstein, doch es brachte nichts, ich musste springen. Vorsichtig tastete ich mich voran und griff an eine unebene Stelle, die mir Halt gab. Das musste funktionieren. Für einen Moment hielt ich die Luft an und sprang. Wie ein Kaugummi stemmte ich mich an die Wand und blieb dort auch stehen. Leicht rutschend, suchte ich mit meinem Fuß nach einer Stelle, auf der ich einigermaßen stehen konnte, solange mich meine Kraft noch nicht verließ.

Und dann fand ich eine. Stück für Stück erklomm ich das Gebäude und schaute nicht zurück. Auch nicht, als der Rauch mich zum Husten brachte. Kurz dachte ich, ich würde rutschen, doch ich hielt mich gerade noch so und klammerte mich an dem Gebäude fest, als hing mein ganzes Leben davon ab. "Verdammt, Chris! Das war knapp!", vernahm ich die erleichterte Stimme von Rick unter mir.

Nur noch einen Meter und dann hatte ich es geschafft. Und das tat ich auch. Ich war oben. Völlig entgeistert blickte mich Claudia an, doch schloss mich augenblicklich in ihre Arme. "Du bist verrückt!"

Und wie ich das war. "Darüber lässt sich streiten. Wichtiger ist jetzt aber, dass wir euch hier runter bekommen." Luke klammerte sich an seiner Mutter fest. Mein Blick fiel auf die zwei anderen Personen, die mit uns in dem Schlamassel saßen. Ein Mann und eine Frau und er kam mir sehr bekannt vor. In meinem Kopf ratterte es, auch wenn es schmerzte und dann fiel es mir ein. Ich hatte ihn im Fernsehen gesehen. Er war der Bürgermeister. Die Frau neben ihm war mir allerdings unbekannt, dennoch wirkte sie mit ihren großen Brillengläsern und dem engen Rock, wie seine Sekretärin. Moment mal. Wenn Claudia und Nick hier waren, wo war dann Jacob?

"Claudia, wo ist Jacob?" Claudia erwachte aus ihrer Schockstarre und wieder zum Leben. "Ich weiß es nicht. Er hat gesagt, er würde nachkommen, aber das ist er nicht." Schon beinahe hysterisch umklammerte sie meinen Arm. "Keine Sorge, ich kümmere mich darum." Ich zog das Seil von meinem Oberkörper und zog Luke augenblicklich an mich heran. Ich wickelte das Seil um ihn und knotete es fest. Ängstlich blickte er zu mir hoch. "Keine Sorge, Kumpel. Dir wird nichts passieren." Dafür würde ich sorgen. Ich zog es noch einmal fest und lief mit dem Seilende zu einem Rohr. Kurz zog ich daran. Es saß bombenfest. In Sekundenschnelle knotete ich das Seil daran fest. "Kommen Sie her!" Claudia war die Erste, die am Seil stand und es mit ihren dünnen Fingern umklammerte. Die beiden anderen folgten ihr. "Sie halten das Seil zusätzlich fest und sorgen dafür, dass es sich im Notfall nicht löst." Die Anspannung die herrschte, war unangenehm, aber alle nickten, ohne sich zu beschweren. Das war immer hin unsere einzige Chance. "Bitte, Chris. Rette meinen Sohn." Flehend blickte Claudia zu mir auf. Sie wollte nur, dass ihr Sohn überlebte. "Ihm wird nichts passieren", versprach ich und ließ sie zurück.

Ich lief zurück zu Luke, der schon nach unten zu Rick blickte, der mir beide Daumen nach oben zeigte. Es konnte losgehen. "Okay, Luke, hör mir zu. Ich werde dir die ersten Schritte helfen. Du stemmst dich mit deinen Füßen an die Wand und machst langsame Schritte. Ich zähle mit. Lass dich von den Flammen nicht irritieren, Rick dort unten sorgt dafür, dass sie dich nicht erwischen."

Wie riskant dieser Plan war, war mir schon lange bewusst. Doch einen besseren hatte ich nicht.

"Immer wenn ich weiterzähle, lassen Sie dort hinten kurz locker, damit er einen Schritt gehen kann", schrie ich nach hinten zu meinem neuen Team, dass ein großer Bestandteil dieser Aufgabe war.

"Es kann losgehen."

The Cure Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt