10. Kapitel

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"Und wie war es heute in der Schule?", fragte meine Mutter neugierig. Ich seuftze. Hatte sie keinen Job, den sie zu erledigen hatte? Warum war sie immer dann da, wenn ich nach Hause kam? War ihre Arbeit nicht der Grund gewesen, dass wir in erster Linie überhaupt hatten umziehen müssen? Ihre Arbeit und Minseok. Letzterer lächelte gerade auch um die Ecke aus der Küche. So oft wie er hier war, könnte er genauso gut direkt mit einziehen, es würde keinen Unterschied machen.

"Hallo Mihee, wie geht es dir?" Ich lächelte ihn gezwungen an und schmiss in derselben Sekunde meine Schultasche in die Ecke. "Essen ist fertig.", rief meine Mutter  und ich schlurfte zur Küche. Mein Blick schweifte nach draußen. Die Sonne war schon untergegangen. Ich war relativ spät nach Hause gekommen, da ich vorher noch mit Nari gesprochen hatte und ich einfach die Zeit vergessen hatte. Wenn ich mit Nari sprach konnten wirklich Stunden vergehen, ohne, dass ich etwas davon mitbekam. Nari war mir jetzt schon eine gute Freundin geworden.

Nach der ersten Stunde Musik mit Yoongi hatte ich sie im Matheunterricht bei Mr. Choi wieder gesehen. Sie sah genauso müde aus wie ich mich fühlte. Wenn ich ihr glauben schenken konnte, hatte sie die ganze Nacht gelernt und zu meiner Verwunderung hatte sich die Müdigkeit auch in den Gesichtern der anderen abgezeichnet. "Schreiben wir einen Test?" hatte ich gefragt, innerlich schon in  Panik verfallend, weil ich absolut nicht auf einen Test vorbereitet gewesen wäre, wobei ich das eigentlich nie war, aber ich konnte beruhigt aufatmen. 

Nari hatte meine Frage zu meiner Erleichterung verneint. Sie würden hier alle sehr hart arbeiten um gute Noten und später einen guten Studienplatz zu bekommen. Das Schulsystem in Korea unterschied sich gravierend von dem in Deutschland. Jeder Schüler arbeitete bis spät in die Nacht, nur damit sie in ihrem späteren Leben erfolgreich werden würden. Für mich war das beinahe unvorstellbar. Warum machten sich alle so einen großen Stress?

Anscheinend kam allerdings auch zu viel Druck von den Eltern meiner neuen Freunde. Nari erzählte mir, dass ihr Vater üblicherweise tagelang nicht mehr mit ihr sprach, wenn sie keine guten Noten mit nach Hause brachte. Und es konnte noch schlimmer werden. Jinhos und Johaes Eltern würden sie so lange ihre Vokabeln abfragen, bis sie sie auch wirklich in- und auswendig konnten. In der Hinsicht konnte ich mit meinen Eltern wohl wirklich glücklich sein. Auch, wenn ich mich manchmal ziemlich über sie aufregen konnte. Aber in meinem Alter war das schließlich normal. Denke ich jedenfalls.

"Und wie war die Schule?", fragte meine Mutter erneut, als ich mich auf meinen Platz fallen ließ. Ich rollte mit den Augen. Wie kam es, dass sie immer dieselben Fragen stellen musste? Was sollte man auf so eine Frage überhaupt antworten? Wie soll die Schule wohl gewesen sein? Meine Versuche die Fragen in den Hintergrund ihrer Gedanken zu verbannen, indem ich mir eine Gabel nach der anderen in den Mund schob, scheiterte. Sie sah mich aufmerksam an.

"Wie immer.", antwortete ich deswegen kurz und knapp, wie jedes Mal und meine Mutter belächelte mich sanft. "Werde ich jemals eine anderer Antwort auf diese Frage erhalten?" Sie lachte. Und um ihre Frage zu beantworten: Nein, nein das würde sie nicht. Selbst mein kleiner Bruder, der ja bekanntlich gerne viel redete, antwortete nicht mehr auf ihre Fragen, die die Schule betrafen. Das hatte er sich bei mir abgeschaut und ich konnte nicht leugnen, dass ich deswegen froh war. Froh und ein kleinwenig stolz, weil er wenigstens einmal auf mich gehört hatte.

Heute wollte die ganze Fragerei allerdings kein richtiges Ende finden. Ganz im Gegenteil. Meine Mutter fühlte sich anscheinend nur noch bestärkt meine knappen Antworten durch neue Fragen zu ersetzen. 

"Und wie geht es deinen neuen Freunden?"

Innerlich wusste ich genau, worauf sie mit dieser Fragen eigentlich hinaus wollte. Sie fragte nach Yoongi. Der Junge hatte es ihr wirklich angetan, dabei hatte sie ihn gerade einmal ein paar Sekunden lang gesehen und mit ihm geredet. Ihre funkelnden Augen ignorierend wechselte ich das Thema.

"Ich brauche einen Laptop.", fiel ich mit der Tür ins Haus, weil das wahrscheinlich die einzige Möglichkeit war, meine Mom mit ihren Fragen zu stoppen. Wie vorhergesehen trat prompt eine Falte auf die Stirn meiner Mutter. Keine Millisekunde später hatte sie Yoongi vollkommen vergessen. Sie atmete tief ein, aber bevor sie auch nur ausholen konnte sprach ich weiter.

"Für  die Schule. Musik. Wir brauchen einen eigenen Laptop, um zu arbeiten. Alle Schüler haben einen eigenen. Es ist nur praktisch, wenn ich mir auch einen zulege." Ich sah meine Mutter bittend an. Sie schien immer noch skeptisch.

"Hat die Schule keinen eigenen Computerraum?", fragte sie hoffnungsvoll und ich schüttelte schnell den Kopf, auch wenn ich es nicht wusste. Die  Diskussion über einen eigenen Laptop hatte ich mit meiner Mutter schon öfter gehabt. Und jedes Mal hatte sie meine Bitte verneint. Das endete darin, dass ich als einzige der gesamten Stufe  immer im PC-Raum arbeiten musste, und zwar mit den antiken Exemplaren, die allein die Hälfte der Stunde brauchten um überhaupt hochzufahren. Kurz gesagt, ich hatte die Arbeiten am PC gehasst und das nur, weil meine Mutter mir keinen eigenen Laptop zusprach. Hatte ich nicht das Recht auf einen eigenen Laptop? Meine Mutter kaufte sich schließlich auch immer neue Sachen. Ich hatte sogar versucht mir das nötige Geld alleine zusammenzusparen, aber es hatte einfach nie ausgereicht.

"Es ist wirklich für die Schule. Das ist total überlebenswichtig.", fügte ich noch hinzu. Mittlerweile hatte auch Minseok seine Gabel beiseite gelegt und verfolgte das Gespräch. Er lächelte sanft.

"An einen Laptop zu kommen wird wohl kaum das Problem sein, oder?", erhob er zu meiner Verwunderung die Stimme. Wollte er mir gerade etwa helfen?

Meine Mutter lächelte und griff über den Tisch hinweg nach seiner Hand. Ich musste mich stark beherrschen nicht laut aufzuwürgen. Das war ja nicht mit anzusehen. Andererseits versuchte Minseok mir gerade zu helfen, was sehr nett von ihm war. Es sei denn, er wollte sich damit bei mir einschleimen. In dem Fall, war es nicht mehr so nett wie gedacht. Ich wusste einfach nicht, was ich von ihm halten sollte.

"Aber natürlich ist das nicht das Problem.", sagte meine Mutter. 

"Ich fürchte nur, dass wir auf die Schnelle kein passendes Modell finden werden.", sagte sie und ich verdrehte im Stillen die Augen.  Ja, klar, das war sicher das Problem, was sie am meisten beschäftigte. An ihrem Gesichtsausdruck konnte ich sehen, dass sie mir lieber überhaupt keinen Laptop kaufen wollte. Der Mann sah es nicht, aber sie war ganz und gar nicht begeistert.

"Mach dir darüber keine Sorgen, Dahee, ich kümmere mich darum.", sagte Minseok zuversichtlich und zwinkerte mir  zu. Ich erwiederte das Lächeln noch nicht ganz überzeugt von seinen Taten.

Ich aß den Rest auf meinem Teller auf,  während sich alle anderen am Tisch prächtig unterhielten. Sogar Jitae erzählte fröhlich von seinem Tag, was er sonst nicht tat, aber Minseok schien ihn irgendwie dazu zu ermutigen. Nach einer Weile sah ich meine Mutter fragend an. "Kann ich in mein Zimmer und Hausaufgaben machen?", fragte ich und sie nickte.

"Aber natürlich, mein Schatz." Ich nickte ihr zu und verbeugte mich noch vor Minseok, was mir meine Mutter eingebläut hatte und verschwand  dann auf meinem Zimmer. Eigentlich hatte ich keine Hasuaufgaben, die ich machen musste. Ich hatte nur versucht aus dieser Situation zu entkommen. Diese Situation, in der alle zusammensaßen und auf fröhliche Familie taten.

Der Anblick, der sich mir bot, als ich mich ein letztes Mal zu dem fröhlichen Treiben umdrehte, ließ mich beinahe wehmütig aufseufzen. Jitae saß am Tisch und lachte herzlich und auch Mom und Minseok konnten sich das Lachen nicht nehmen lassen. Das Ganze sah so harmonisch aus, dass ich unwillkürlich an Deutschland denken musste. An Deutschland und an meinen Vater. Er hatte sich kaum gemeldet, geschweige denn gefragt, wie mein erster Schultag gewesen war. Ich glaube er hatte es einfach vergessen. Oder vielleicht wollte ich das einfach glauben. Ich wollte zumindest nicht wahrhaben, dass er mit seinem Leben, mit uns, schon abgeschlossen hatte und ein vollkommen neues Leben beginnen wollte, in dem er nicht mehr mit seinen Kindern zu tun haben wollte. Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen.

Ich schloss die Tür hinter mir lautlos und wusste im nächsten Moment nicht, was ich machen sollte. Meine Hausaufgaben hatte ich alle schon erledigt, auch wenn ich meiner Mutter etwas anderes erzählt hatte. Eigentlich war es wieder einmal nur eine Ausrede gewesen, um auf mein Zimmer zu gehen, um meine Ruhe zu haben. Das Lachen aus der Küche erreichte mich nur noch gedämpft und ich konnte es gut ausblenden.  Also tat ich das, was ich schon die letzten Tage über tat. Ich legte mich auf  mein Bett und starrte an die Decke. Ich zog meine Kopfhörer über und die Musik empfing mich.

Seesaw (BTS Fan-Fiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt