Kapitel 9: Der Kuss

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Ich brauchte jetzt irgendwas, das mich ablenkte. Ich wollte nicht die ganze Zeit über Ben nachdenken. Da kam mir Madi ganz gelegen. Sie fragte, ob ich mit in die Stadt wolle um Vorräte zu kaufen. Sophie, Amy und Lydia kamen auch mit. Wir fuhren zu einem Markt namens Mpreis. Das war so etwas wie der österreichische Netto oder Aldi. Sophie und ich bettelten so lange, dass wir auch mal für die ganze Familie kochen dürften, bis Lydia und Madi schließlich zustimmten. "Aber erst am Montag", fügte Lydia mahnend hinzu. Gut. Wir mussten uns eh noch überlegen, was wir kochten. "Ich will helfen!", schrie Amy. "Natürlich darfst du helfen", sagte ich zu ihr. Nachdem wir Lebensmittel eingekauft hatten, ging es weiter zu einem Bauer, der Heu verkaufte. Wir hatten extra einen großen Anhänger an das Auto geschnallt, dass wir das ganze Heu für die Tiere mitnehmen konnten. Automatisch musste ich mich an Ben erinnern. Dabei wollte ich doch nicht an ihn denken! "Was baut ihr eigentlich an?", fragte ich um auf andere Gedanken zu kommen. "Rüben, Weintrauben und Kartoffeln und jedes dritte Jahr Salat. Das war Bens Wunsch", antwortete sie. Schon wieder Ben! Wieso wünschte er sich, dass Salat angebaut wird?! Aber noch viel wichtiger: wieso ging er mir nicht aus dem Kopf?! "Ihr passt gut zusammen", sagte Lydia. War ja klar. Ich hatte das Gefühl, dass jeder mit mir über Ben und unsere "Beziehung" reden wollte. "Dankeschön", murmelte ich und Lydia beließ es zum Glück dabei. Bei dem Bauern luden wir das ganze Heu auf den Anhänger. Da jeder mit anpackte, waren wir realativ schnell fertig. Viel zu schnell waren wir wieder da. Es war erst 18 Uhr. "Soll ich noch bei irgendwas helfen?", fragte ich hoffnungsvoll. "Nein, Schätzchen. Geh nach oben zu Ben. In etwa einer Stunde gibt's essen", sagte Madi glücklich. Na super! Zu Ben! Ich wollte nicht zu Ben! Aber ich hatte einen Entschluss gefasst, den ich ihm gleich mitteilen werde. Ich nickte und ging nach oben. Vor der Tür zögerte ich. Ich atmete tief durch und ging dann rein. Ben saß wie immer auf dem Sofa. "Hey", begrüßte ich ihn. Er drehte sich zu mir um. "Hey", entgegnete er und lächelte mich an. Es war ein schönes Lächeln. Nicht sein dreckiges wie sonst. "Wir müssen reden", verkündete ich. Ben machte den Fernseher aus und sah mich erwartungsvoll an. Oh Gott! Und was jetzt? Ich wollte es ihm sagen. Aber ich fand meinen Entschluss ja selber scheiße! Doch es musste sein. Mein Wille und mein Verstand kämpften miteinander. Mein Verstand siegte letztendlich. "Ben, diese Beinahküsse müssen aufhören! Dadurch entstehen nur peinliche Situation und eine Spannung zwischen uns", sagte ich. Ich wollte nicht, dass das aufhörte, aber es musste sein. Ich hatte mit irgendeinem dummen Spruch gerechnet, aber er schwieg. Ich versuchte an seiner Mimik seine Gedanken zu erraten. Zuerst schaute er etwas zerknirscht, aber dann wieder neutral. "Okay. Du hast Recht", gab er nach. Was?! Ich hatte mit einer ewigen langen Diskussion gerechnet, die mit Beleidigungen endete, aber das?! Er gab ohne auch nur einen einzigen Widerspruch nach?! Was war nur los mit ihm? Vielleicht wollte er mich ja gar nicht küssen. Das war alles nur ein Spiel für ihn. Er wollte mich gar nicht. Wieso machte mich das jetzt traurig? Ich nahm mein Handy, sagte, dass ich schnell Hannah anrufen würde und ging raus. Ich lief ein ganz schönes Stück vom Haus weg und setzte mich dann ins Gras. Schnell wählte ich Hannahs Nummer. "Und wie ist es? Erzähl!", meldete sie sich. Nachdem ich ihr alles erzählt hatte schwieg sie. Plötzlich fing sie an wie blöd zu lachen. "Was ist denn?!", fragte ich etwas genervt. "Maya... ist in... Ben verknallt!", lachte sie. "Nein! Niemals!", stritt ich sofort ab. "Maya, leugne es nicht! Das müsste inzwischen sogar Ben geschnallt haben!", sagte sie immer noch lachend. Okay. Vielleicht hatte sie ein kleines bisschen Recht. Aber darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. "Was gibt's bei dir neues?", fragte ich.  Hannah erzählte, dass sie heute mit Maxi Eis essen war und es total gut lief. Sonst gab's nichts neues. So war das also. Tolle Arbeit hatte er zu erledigen. Dann legte ich auf, weil es sonst zu teuer wurde. Ich legte mich ins Gras und kramte meine Kopfhörer raus. Zum Glück hatte ich sie immer in der Hosentasche. Ich hörte Jar of hearts von Christina Perri und dachte wiedermal über Ben nach. Hannah hatte Recht. Ich war etwas in ihn verliebt. Aber ich wusste, dass es nur ein Spiel für ihn war. Sobald wir wieder in Deutschland sind, wird er sich an die nächstbeste Tussi ranwerfen. Vielleicht war ich ja gar nicht verliebt. Vielleicht waren das nur so Gefühle, die aufkamen, weil ich so tun musste, als wäre ich verliebt. So viel ich mir auch einredet, ich wäre nicht in Ben verliebt, ich wusste es ganz sicher. Plötzlich erschien Bens Gesicht über meinem. Wieder mal schrie ich und riss mir die Kopfhörer aus den Ohren. "Ist okay! Bin ja bloß ich!", rief Ben beschwichtigend. "Ben! Ich hab dir schon mal gesagt, du sollst mich nicht immer so erschrecken!", sagte ich vorwurfsvoll und stand auf. "Es gibt Essen", erwiderte er. Nebeneinander gingen wir zum Haus. Nach ein paar Schritten nahm er meine Hand. "Sie beobachten uns", flüsterte er. Na gut. Dann hielt ich halt Händchen mit ihm. Meine Herz schlug wieder schneller. Ben war echt nicht gesund für mich. Ich bekam jedes Mal fast einen Herzinfarkt.  "Kaufen sie es uns ab?", fragte ich. "Bisher schon", murmelte Ben. Schweigend gingen wir noch das letzte Stück bis zum Haus.

Nach dem Essen setzten wir uns alle zusammen ins Wohnzimmer. Außer Lukas und Amy. Amy schlief schon und Lukas übernachtete bei einem Kumpel. Alle tranken Bier außer Ben und ich. Sogar Oma Lucia! Der Abend war ganz gemütlich.  Wir spielten Uno und je mehr die anderen tranken, desto lustiger wurde es. Ich saß mit Ben auf dem kleinen Sofa. "Wisst ihr, was mir aufgefallen ist?", fragte Bens Onkel Josef. Er lallte schon ein bisschen. Kein Wunder! Er trank sein 6. Bier! "Nein", riefen die anderen und lachten. Josef zeigte mit dem Finger auf mich und Ben. "Seit ihr hier seid, habt ihr euch noch kein einziges Mal geküsst", stellte er fest. Josef hob provozierend die Augenbraue. "Zweimal fast und wir wollten es eigentlich nie wieder tun!", zischte ich in Gedanken. "Küssen! Küssen! Küssen!", gröllten alle im Chor. Ich lief rot an. Wie alt waren sie?! Vier?! Vor zwei Stunden hatten Ben und ich noch aus gemacht, keine Beinahküsse mehr! Naja, das wäre ja auch kein Beinahkuss. Ich sah zu Ben. Der legte eine Hand in meinen Nacken und zog mein Gesicht näher zu meinem. Oh Gott! Jetzt küsste er mich gleich. Es wurde still. Sanft legte er seine Lippen auf meine. Erstaunlich, was diese Berührung in mir auslöste. Es war, als würde in mir ein Feuerwerk explodieren. Viel zu schnell löste er sich wieder von mir. Ich wollte nicht, dass das Feuerwerk aufhörte. Verwirrt sah er mich an. Ich ließ mir selbst keine Zeit zum Nachdenken, sondern umfasste Ben mit beiden Händen im Nacken und zog ihn wieder zu mir. Abermals berührten sich unsere Lippen. Nur dieses Mal waren sie wilder, fordernder. Ben schlang seinen Arm um mich und zog mich näher an sich ran. Ich konnte gar nicht genug davon kriegen. Unser Kuss wurde inmer leidenschaftlicher. Ich vergaß alles um mich herum. Bis sich jemand räusperte. Beschämt ließ ich von Ben ab. Wir starrten uns einen Moment lang überwältigt an, bis wir die Fassung wieder gefunden hatten. Wow! Das war wirklich... wunderschön. Ich musste zugeben, dass ich den Kuss richtig genossen hatte. Zu meinem Entsetzen wollte ich noch mehr von Bens Küssen. Was war nur los mit mir?! "Das war ja mal ein Kuss", lachte Sophie. Fuck! Die anderen waren auch noch da! Wie hatte das denn jetzt ausgesehen?! Ben und ich hatten gerade alles um uns herum vergessen. Wir hatten uns eiskalt vor seiner Familie gegenseitig fast aufgefressen! Ich sah zu Ben. Er sah immer noch total überrumpelt aus und starrte auf einem Fleck auf dem Tisch. Ihn so zu sehen erfüllte mich mit Genugtuung. Wenigstens hatte es nicht nur mich aus der Bahn geworfen. Ich kicherte. "Es ist schon spät. Wir sollten alle ins Bett gehen", meldete sich Madi zu Wort. Die anderen seufzten. Sie schienen nicht begeistert davon, dass sie Bens und meine lustige Einlage nicht mehr mit verfolgen konnten. Langsam erhoben sich alle. Ben stand auf, murmelte "Nacht", nahm mich an der Hand und zog mich mit. "Gute Nacht, ihr Lieben!", rief ich noch. Ich war bester Laune. Es hätte mir unmöglich besser gehen können. Im Zimmer angelangt ließ Ben meine Hand los und verschwand ohne ein Wort ins Bad. Okay. Was war mit dem los? Ich zog mich schnell im Zimmer um. Als er raus kam, stand ich gerade am Fenster. Er steuerte geradewegs auf mich zu. Ich lehnte mich möglichst cool an die Wand. Er stützte sich mit seinen Händen auf beiden Seiten von mir ab. Vergessen war die Gelassenheit. Mein Puls raste, genau wie mein Herz. Ich sah in seine Augen. Sie waren fragend. Da kam mir etwas in den Sinn.  Was ist, wenn er mich gar nicht küssen wollte? Wenn er das nur getan hat, um keinen Verdacht zu erregen. Ich kam mir so dumm vor, dass ich dachte, er würde etwas für mich empfinden! Beschämt sah ich zur Seite. Ben streichelte meine Wange. Wo er mich berührte, brannten Flammen unter meiner Haut. Er drehte meinen Kopf wieder zu sich. Kurz überlegte er. Dann presste er seine Lippen auf meine. Darauf hatte ich gewartet. Sofort hatte ich keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Ich schlang meine Arme um seinen Hals. Er legte seine Hände um meine Taille und drückte mich fester an die Wand. Ich vergrub meine Hand in seinen Haaren. Er roch so gut! Nicht nach Aftershave oder so. Nein, einfach nur nach Ben. Er hob mich hoch, sodass ich meine Beine um sein Becken schwang. Er taumelte rückwärts. Plötzlich verlor er den Halt und wir fielen aufs Bett. Wir lachten.  Dennoch nur kurz, denn wir küssten uns gleich wieder. Er machte mich wirklich wahnsinnig! Meine Gehirn war wie benebelt. Ich vergaß alles um mich herum, wenn ich ihn küsste. Er schob den Träger meines Schlafanzugs über meine Schulter und küsste sie. Plötzlich stoppte er und setzte sich aufrecht hin. Undefinierbar starrte er mich an. Ich glaubte etwas Entsetzen und Verwirrung in seinen Augen zu sehen. Er ging zu seiner Couch. "Gute Nacht", sagte er und schaltete das Licht aus. Und mich ließ er hier einfach im Dunkeln sitzen! Was hatte er nur jetzt wieder? Ich wurde aus ihm nicht schlau!

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