CHAT 63 1/2

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„Wo bist du, Jungkook?", hörte ich ihn durch den Hörer fragen. Taehyung klang so ernst, so besorgt - aus ihm sprach geradewegs die freundschaftliche Fürsorge, und dennoch durfte ich ihm keinerlei Fragen beantworten. Denn wenn, dann würde er sich auf den Weg machen. Dann würde er in diese gesamte Sache hineingezogen werden, mich tatkräftig unterstützen wollen... wie Jimin es gerade versuchte.

„D-das ist gerade nicht wichtig, T-Taehyung", erwiderte ich und atmete stockend. „I-ich-"

„Das ist sehr wohl wichtig, verdammt nochmal!"

Es donnerte, als Jungkook aufwachte.

Und er erinnerte sich daran. Er erinnerte sich an den gesamten Telefonanruf zwischen ihm und Taehyung, er erinnerte sich nach wie vor daran, wie er sich danach mit Jimin getroffen hatte, wie sie einen Plan schmiedeten... und wie unglaublich schief dieser doch verlaufen war. Immer wieder kamen Fragmente seiner Erinnerungen zurück, anachronistisch, sodass er verwirrt war und sie kaum zuordnen konnte - doch er spürte geradewegs, wie sich mit der Zeit eine Reihenfolge bildete. Wie alles Stück für Stück Sinn ergab.

Doch wenn er an die Geschehnisse zurückdachte, so drehte sich stets sein Magen um.

Er schob die Laken etwas beiseite und erhob sich langsam und vorsichtig von den Kissen, um seinen Schädel kein weiteres Mal herauszufordern. Es dauerte etwas, bis sich sein rasendes Herz beruhigen konnte, und was ihm am meisten dabei half, war ein schweifender Blick zum leeren Wasserglas auf dem Nachttisch. Taehyung hatte ihm vorhin Wasser gebracht. Der Ältere war so selbstlos und fürsorglich, dass es das Herz des Jüngeren mit einem reinen, angenehmen Gefühl der Wärme und Zugehörigkeit erfüllte; obwohl er in seinem Zustand nirgends hingehören konnte, so langsam gar Gewissensbisse bekam, Taehyung in solch einem hohen Maß auszunutzen. Doch wie lange war „vorhin" eigentlich her? Wann war er eingeschlafen, und welche Uhrzeit hatten sie jetzt?

Mit einem leisen Seufzer schwang Jungkook seine trägen Beine über die Bettkante und griff nach dem Wecker neben dem ausgetrunkenen Wasserglas. Es dauerte etwas, bis er die Zeiger und die Zahlen der Uhr ausmachen konnte. Umso verwunderter war er, als die Uhr dann Viertel nach drei Uhr morgens anzeigte, er somit wohl nicht allzu lange geschlafen haben konnte. Das würde jedenfalls erklären, weshalb er sich alles andere als erholt fühlte. Doch irgendwo... glaubte er ein anderes Gefühl ausmachen zu können. Ein unangenehmes Gefühl, eine miese Vorahnung, eine bizarre Negativität im Magenbereich, die alleine durch die ungewohnte Stille in dieser Wohnung erzeugt wurde; durch die verstummten Fernsehgeräusche, durch das Fehlen von Schritten, Geräuschen allgemein, sowie durch die Apathie einer ganz spezifischen, wohlig rauen Stimme, die ihm üblicherweise beiseitegestanden und über ihn gewacht hätte. Die Geräuschlosigkeit und das taktische Ticken des Weckers in seiner Hand schienen alles in sich zu ersticken. Nichts anderes war zu hören, nur der Sekundenzeiger allein. Tick, Tack, Tick, Tack. Und während Jungkook dem Wecker lauschte, diesem Tick, diesem Tack, registrierte er, dass er diese Uhr zuvor noch nie akustisch wahrgenommen hatte. Es war in dieser Wohnung während seiner Anwesenheit noch kein einziges Mal bisher still genug gewesen, damit er etwas solch Läppisches wie das Ticken dieses ungestellten Weckers hätte bemerken können. Es war tatsächlich das allererste Mal.

Diese Erkenntnis war es, die dieses mysteriöse Gefühl in ihm verstärkte.

Er fragte sich, ob Taehyung wohl schlief - erinnerte sich dann jedoch plötzlich daran, dass er den Älteren noch nie schlafen gesehen hatte. Würde man seine Atmung hören? Schnarchte er? Wand er sich in den Träumen? Gab Taehyung denn gar keine Geräusche von sich? Seinen Kopf umkreisten abertausend Gedanken, die er sich sonst nicht stellen würde. Wieso interessierte ihn das gerade jetzt?

Stimmt. Weil er nichts hörte. Nichts als Tick, Tack, Tick, Tack.

Und weil ihn das irgendwie, so närrisch und übersensibel das auch klingen mag, beunruhigte.

So kam es dann auch, dass er das Ticken des Weckers unter einem der Kissen erstickte und aufstand. Es war kindisch. So kindisch, dass man meinen könnte er wäre ein Vierjähriger, der das Familienhaus mit einem fest umschlungenen Stoffbären mitten in der Nacht durchstreifen und nach seinen derweil friedlich schlafenden Eltern Ausschau halten würde. Genauso fühlte er sich auch, doch er konnte trotzdem nicht anders. Er konnte sich nicht von seinen vagen, irrwitzigen Vorahnungen distanzieren, trat leise über den dunklen Laminatboden zur spaltweit geöffneten Tür und schwang diese mit wachsamen Augen auf. Als er daraufhin auch nichts mehr hörte, warf er einen Blick auf die Couch im Wohnzimmer. Nichts. Badezimmer. Nichts. Kein Taehyung weit und breit. Und mit jedem Zimmer, das er erfolgslos durchsuchte, beeilte er sich etwas mehr, begann mit seinem verstauchten Bein leicht zu humpeln, war dieses doch immer noch nicht vollständig verheilt und bedürfte eigentlich ärztlich vorgeschriebener Schonung. Trotz alldem fand er weder Taehyung, noch irgendeinen Zettel, der ihm informativ von dessen Standort in Kenntnis setzte. Die Wohnung war leer. Mucksmäuschenstill. Nur seine Atmung war zu hören, unregelmäßig wie diese durch die sinnlose Hektik geworden war.

„Taehyung?"

Er hatte doch jedes Zimmer durchsucht, also wieso fragte er dann noch? Wieso rief er ihn?

„Bist du da?"

Es war schlichtweg frustrierend. Denn als Antwort bekam er diese schwere Stille, dieses Nichts in der Dunkelheit, die sich über ihn legte, ihn nahezu erdrückte. Es war ihm, als würde diese Lautlosigkeit einen dichten, unsichtbaren Nebel erzeugen, der den Sauerstoff verdünnte und ihm somit wortwörtlich den Atem raubte, ihn wahrhaftig zu erwürgen drohte. Da wurde ihm mit einem Schlag bewusst, wie sehr er es fürchtete, alleine zu sein. Schon wieder einsam, verlassen, verloren. So wie er es ohne Gedächtnis in den Gassen Seouls gewesen war, so wie er sich selber nicht erkannt hatte und Feind von Freund nicht unterscheiden konnte. Alleingelassen in seiner Hilflosigkeit. Und jetzt, wo er seine Erinnerungen partiell wieder besaß... fürchtete er noch etwas anderes. Etwas, das nicht zu ergreifen war, undeutlich, für manche vielleicht unbegreiflich, doch er hatte solche Angst davor, dass Taehyung nicht wiederkehren würde. So wie Jimin es nach seiner Flucht ebenso wenig getan hatte.

Wo konnte der Ältere um die Zeit überhaupt sein?

Jungkook schluckte einmal schwer und setzte sich dann auf die Couch im Wohnzimmer. Dorthin, wo sie vor wenigen Stunden noch fernsehgeschaut hatten. Dann, um diese unerträgliche Stille zu durchbrechen, griff er mit einer Hand nach der Fernbedienung neben ihm und suchte verzweifelt nach irgendeinem schlecht gedrehten Krimi, so wie er ihn sich mit Taehyung angeschaut hatte. Irgendein Sender würde so einen schon bereithalten. Auch wenn es bald vier Uhr war, es musste trotzdem einen Kanal geben, der eine solche Serie gerade laufen ließ; schließlich mangelte es nie an Krimis. Ob jetzt Amerikanisch, Britisch (sowie Taehyung es manchmal bevorzugte), Koreanisch oder Japanisch spielte ihm dabei keine Rolle. Aber es gab nichts. Kein verfluchter Sender spielte einen Krimi ab, keine der laufenden Filme und Serien bot ihm das gewünschte Genre. Also gab er auf, nachdem er die Kanäle schon zwei Mal durchsucht hatte - und ganz gleich, ob das nun Zufall oder Schicksal war; er hielt bei einem Nachrichtensender.

Eine stark geschminkte, koreanische Frau sah einmal kurz auf die Blätter vor ihr und warf ihren kühlen, emotionslosen Blick dann geradewegs durch die Kamera zum Zuschauer. Ihre Stimme war sachlich, gefasst, während sie von aktuellen Geschehnissen berichtete, sich neben ihr Fenster mit neu aufgezeichneten Bildern von einem brennenden Gebäude öffneten.

Lagerhaus in Brand gesteckt, stand als Schlagzeile unter ihr geschrieben, Feuerwehr kämpft noch erfolglos mit dem Feuer!

„Obwohl die Feuerwehr noch immer tatkräftig gegen das Feuer ankämpft, so scheint es aussichtslos", berichtete sie daraufhin und presste ihre roten Lippen zusammen, so wie es Frauen nun mal manchmal taten, wenn sie Lippenstift trugen. „Alle Anwesenden warten ungeduldig auf den angekündigten Regen", sprach sie weiter, „er scheint die einzige Hoffnung der Feuerwehr zu sein."

Dann bündelte sie ihre Blätter.

„Wir versuchen Verbindung mit Herrn Kim aufzustellen, der sich gerade live vor Ort befindet." Ihre Haltung versteifte sich. „Und überprüfen somit den Wahrheitsgehalt der Zeugenaussage, ein Polizist habe das Gebäude zuvor betreten."

Remember me ♛ VKook「50% Texting」 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt