CHAT 42

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„Du konntest noch nie gut schleichen."

Jungkook hielt augenblicklich inne. Er empfand diese tiefe Stimme als zu ruhig und angenehm, um zusammenzuzucken, doch gleichzeitig hatte er sich in all der Zeit seines verlorenen Gedächtnisses noch nie so ertappt gefühlt. Und noch nie hatte ein einziger Satz solch einen Sturm in ihm auslösen können. Es war solch ein seltsamer Moment, so unfassbar verwirrend für ihn, denn neben seiner Furcht und seinen Bedenken tauchte ein Gefühl der Schwere in seiner Brust auf, welches er in all der Zeit zum ersten Mal empfand. Sein Herz schmerzte... und er wusste nicht weshalb. Er wollte zur Tür - doch dieses Gefühl hinderte ihn mit aller Kraft an seinem Vorhaben.

Was war mit ihm bloß los? War er doch schlimmer verletzt als gedacht... ?

Wie versteinert stand er also da und starrte noch immer zur Tür, während Taehyung aus der Schwelle zum Wohnzimmer trat und sich ihm mit drei kurzen Schritten näherte. Er blieb geradewegs neben Jungkook stehen. Und während Jungkook versuchte herauszufinden, weshalb sein Herz dadurch noch mehr an Gewicht zu gewinnen schien, verschränkte Taehyung seine Arme vor der Brust.

„Wo wolltest du hin?", fragte er mit einer leicht vorwürflichen Tonlage und musterte Jungkook skeptisch von oben bis unten. „Es wundert mich, dass du schon aufstehen kannst - Dr. Kang hatte andere Prognosen bezüglich deiner Gesundheit... Jungkook." Bei der Erwähnung seines Namens zuckte der Jüngere nun doch kurz zusammen. Er wusste noch, wie einige Personen ein paar Tage nach seinem Aufwachen hinter ihm her gewesen waren - er wusste noch, wie sie ebenfalls seinen Namen ausgesprochen hatten. Bei ihnen hatte sich sein Name jedoch fremd angefühlt. Nicht wie ein Teil von ihm. Dennoch konnte dieses eine Wort, ausgesprochen von dieser tiefen und dunklen, trotzdem unfassbar warmen Stimme ihn plötzlich mit einer Welle der Vertrautheit überrumpeln. Plötzlich fühlte er sich mit seinem Namen eins, und auf einmal signalisierte ihm ein tief in ihm verankertes Gefühl, dass er sich gerade Zuhause befand. Dass er bei dieser Person Zuhause war.

Einer Person, die ihn als schlechten Menschen empfand und höchstwahrscheinlich verachtete.

Doch auch für Taehyung war es ein seltsames Gefühl, ihn wieder mit diesem Namen ansprechen zu können, nach all der Zeit, in der er dies nie wieder tun zu können glaubte. Nach der Zeit, in der er sich von seinem Freund seelisch hatte verabschieden müssen und kläglich gescheitert war. Insgesamt war diese Situation wie ein Traum. Surreal. Unmöglich und gleichzeitig wundervoll. Jedoch hatte sich Taehyung diesen Gefühlen bereits im Krankenhaus gestellt und sie unter Kontrolle gebracht; denn das war seine Stärke. Sich unter Kontrolle zu halten.

Er seufzte.

„Wir haben da ein Missverständnis, Kleiner."

Noch immer betrachtete der Ältere seinen ehemaligen Partner von der Seite aus. Es war seltsam, denn Jungkook bewegte sich keinen Millimeter, bis er schließlich den Kopf senkte und weiter die Tür ansteuerte; humpelnd und langsam, die Flurwand als Stütze dienend. Der Ältere konnte keinen Blick auf das Gesicht des Jüngeren erhaschen, als dieser sich weiter die Wand entlang tastete. Nicht mal kurz hatte er seine Augen dem Älteren zugewandt. Viel zu sehr hatte sich seine Brust verknotet, viel zu unerklärlich und konfus war sein Inneres.

Besagter sah ihm lediglich mit undefinierbarer Miene nach. Er drehte sich Jungkook langsam zu und löste seine verschränkten Arme, um, so untypisch es für ihn auch klingen mochte, hinter seinem Rücken nervös die Hände kneten zu können.

„Du bist kein Verbrecher", versicherte er anschließend übermäßig bestimmt. Es klang nicht einstudiert, aber auch nicht spontan.

Jungkook blieb daraufhin stehen.

„Du bist mein ehemaliger Partner."

Taehyung biss sich auf die Unterlippe, ehe er fortfuhr.

„Das ist dir alles passiert, weil ich darin versagt habe, dich zu beschützen", sprach er weiter und Reue begann sich in seinem Gesicht zu spiegeln. „Und ich war wütend... weil du mir damals etwas sehr Wichtiges verschwiegen hattest... aber ich bin es nicht mehr. Nicht, wenn ich dich hier so sehen kann - am Leben und... sicher bei mir." Er atmete einmal tief ein, schloss die Augen und öffnete sie wieder, um den Jüngeren im Auge behalten zu können. Doch dieser bewegte sich nicht. Jungkook machte keinerlei Anstalten, sich dem Älteren zuzudrehen, schien ihm keine Antwort geben zu wollen. Diese Erkenntnis ließ diesen bitter schlucken.

Jungkooks Iriden glitten zur Seiten und obschon er sich dem Älteren nicht zudrehte, konnte er dessen Präsenz ein paar zögerliche Schritte näherkommen spüren.

„Sag etwas", hörte er Taehyungs tiefe Stimme nun bitten und eine gebräunte Hand legte sich auf Jungkooks rechte Schulter. Sie fühlte sich warm und stark an. „Ich bitte dich darum."

Die Hand begann leicht an seiner Schulter zu ziehen, so, dass er sich ohne Mühe dagegen stemmen und widersetzen könnte; doch das tat Jungkook nicht. Er ließ sich einfach von Taehyung umdrehen. Unfokussiert wanderte sein Blick über die Schuhe neben der Eingangstür, über den eingemauerten Flurschrank und richtete sich schließlich geradewegs auf Taehyungs besorgtes Gesicht. Ihre Blicke kreuzten sich, als eine einzelne Träne über Jungkooks Wange lief und er sich vom Griff des Älteren befreite.

„Tut mir leid", meinte Jungkook und trat einen knappen Schritt zurück. Mit dem Unterarm seines heilen Arms wischte er sich über die Augen, ehe er sich aufgewühlt durch die Haare fuhr. „Das... ist so komisch." Er biss sich auf die Lippen und wollte sich gerade wieder von Taehyung abwenden, als dieser ihn davon abhielt.

„Was ist komisch?", bohrte der Ältere nach. „Wieso weinst du?" Er packte Jungkook am Ärmel und hinderte ihn so daran, noch weiter zurückzuweichen. Denn in ihm flammte ein Hoffnungsschimmer auf, der seiner Kontrolle entsprang. Die Hoffnung, dass Jungkook sich vielleicht an ihre gemeinsame Zeit erinnerte.

„Dieses... Gefühl", antwortete Jungkook. Seine Stimme klang heiser und ließ vermuten, dass der Jüngere diese in letzter Zeit nicht allzu oft gebraucht hatte. „Dieses... es ist komisch. Hier." Er hob seine Hand und deutete mitten auf seine Brust. Taehyung sah auf die besagte Stelle, ehe er die Brauen hob und wieder Augenkontakt zum Jüngeren herstellte. Jungkook sah ihn mit großen, verwirrten Augen an. „Bin ich Herzkrank?", fragte er etwas unsicher. „Hat mich dieser... Wagen so schlimm erwischt?"

Diese Ausdrucksweise und diese Gedankensprünge hatte Taehyung so vermisst. Diese Art von Jungkook, sich nur schwer erklären zu können, von einer Schlussfolgerung zur anderen zu springen und keinen Beschrieb für seine Gedanken oder Gefühle zu finden. Früher hatte er darüber nur getadelt, doch nun zog er den Jüngeren in eine enge Umarmung.

Taehyung schlang seine Arme vorsichtig um Jungkook, legte sein Kinn auf dessen Schulter ab und schloss seine Lider. Wärme breitete sich in ihm aus, während Jungkook seinen Kopf extremst verunsichert zum braunen Haarschopf des Älteren drehte.

„Ich habe dich so vermisst, du Idiot", flüsterte Taehyung gekränkt und drückte den Jüngeren noch enger an sich. „Und ich bin so froh, dass sich ein Teil von dir an mich zu erinnern scheint."

Der Knoten in der Brust des Jüngeren begann sich zu lockern.

Jungkook öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, schloss sie jedoch wieder, als eine Hand ihm behutsam über den Rücken fuhr. Es fühlte sich gut an. Vertraut. Zuhause. So senkte der Jüngere also seinen Kopf, genoss Taehyungs angenehmen Aftershave-Geruch und hob unsicher seinen heilen Arm an. Zögerlich legte er seine Finger auf Taehyungs Haupt. Dann begann er über dessen Haare zu streichen, mit zitternder Hand, ehe sein fragender Blick an Bitterkeit gewann.

„Ich glaube... ich hatte dich auch vermisst... Hyung."

Remember me ♛ VKook「50% Texting」 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt