5« Tears

4.1K 192 9
                                    


Stunden später erwachte ich versonnen aus dem Schlaf, als mir ein Kissen ins Gesicht fiel.
Verträumt öffnete ich eins meiner Augen und starrte in das blasse Gesicht meiner Schwester.

Ihre tiefschwarzen Augenringe ließen bedrohliche Schatten in ihr Gesicht fallen und mir gefiel der Kontrast ganz und gar nicht.
Besorgt fasste ich ihr an die Stirn und zuckte unmerklich zusammen.
Heiß. Sie hatte hohes Fieber und das erklärte auch ihre Schweißausbrüche.

Erschöpft erhob ich mich und befeuchtete einen Waschlappen, um ihn ihr auf die Stirn zu legen.
Dann kühlte ich ein Handtuch und legte es ihr unbemerkt um den Hals, ehe ich mich zu der kleinen Kommode im Flur begab, mich wusch und umzog und dann nach dem Haustürschlüssel griff.

Aus Gewohnheit würde Jane noch bis in den Nachmittag schlafen und mit Glück war ich vor ihrem Erwachen wieder zurück.
Sie schlief meist den ganzen Tag und nur abends setzten wir uns manchmal an den Esstisch und lernten.

Jane war nur die ersten Jahre und auch nur in Teilen zur Schule gegangen. Seit sie lebte, kümmerte ich mich allein und von Zuhause aus um sie. Die Grundlagen vom Lesen und Schreiben hatte ich ihr beigebracht und durch einfache Erfahrungen wusste sie mit Geld umzugehen.

Es war nicht dasselbe Hausunterricht zu haben, anstatt zur Schule zu gehen, aber Jane kannte es nicht anders und es gab auch keine andere Möglichkeit für sie. Sie konnte nicht zur Schule gehen und sich nachmittags mit Freunden im Park treffen.
Es war schlichtweg unmöglich sie Dinge machen zu lassen, die andere Leute taten – joggen gehen, in Cafés ein Eis essen oder eine Fahrradtour machen. Sie konnte nicht nach draußen, sie würde keine zwanzig Meter ohne Probleme laufen können und es bestand immer die Gefahr, dass sie mit nur einem falschen Schritt zusammenklappte.
Es war auch meine Angst, die sie zuhause liegen ließ. Ich wollte nicht, dass sie ohne mich nach draußen ging.

»Ich komme später wieder«, flüsterte ich ihr ins Ohr und gab ihr einen letzten Kuss auf die Stirn.
Sie wirkte so friedlich im Schlaf.
Wenn man sie ansah, dachte man vermeintlich, es ginge ihr gut. Doch man musste nur für Sekunden die Luft anhalten und schon hörte man ihre schweren Atemzüge und dieses Rasseln, was mich nachts schlecht träumen ließ.
Es brach mir das Herz, sie so krank zu sehen. Besonders schlug mich immer der Kontrast vom Damals und Jetzt zu Boden.
Früher war sie ein so aufgewecktes Kind gewesen. Sie lachte immer, sie war fröhlich und unbeschwert. Ich erinnerte mich an die vielen Sommerabende im Juli, an denen Mum und ich gemeinsam mit Baby Jane auf der Veranda saßen und ihr beim Lachen zuhörten. Es war eine Melodie. Eine Musik, von der niemand genug bekommen konnte und ich wusste, dass die Sonne für mich jeden Tag ein zweites Mal aufging, wenn sie mich anlachte. Sie war das süßeste Kleinkind, das ich je kennenlernte und glich Mutter schon damals bis ins Detail –
kurze braun-blonde Locken und sonnenaufgesogene Haut, die mit einzigartigen Muttermalen verziert war.

Ich war immer neidisch auf meine Schwester, denn sie war auch mit den Jahren nur schöner und faszinierender geworden. Sie hatte die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wenn sie als Kleinkind einen Raum betrat und sie hatte ihre Mitmenschen mit ihrem Gebrabbel immer bei Laune gehalten.

Vor wenigen Jahren aber hatte ich feststellen dürfen, dass sie Mutter viel mehr als nur im Detail ähnelte.
Sie trugen ab dieser einen Diagnose auch dasselbe Schicksal und ich wusste nicht, ob mich die Worte des Arztes damals mehr verletzten, als die gesamte Sache Jane.
Sie hatte sich schon immer Dinge schön geredet, aber das waren sie damals lange nicht mehr. Nie wieder. Denn jetzt schrieb das Schicksal langsam seinen Epilog und zerrte Jane damit aus diesem Leben.

Mit einem beklommenen Gefühl verließ ich die Wohnung und zog leise die Tür hinter mir zu.
Draußen bedeckten Schäfchenwolken den Himmel und ich war erfreut nicht von der Mittagssonne gekocht zu werden. Die letzten Tage war es dürreheiß gewesen und ich sehnte mich nach Regen und kühleren Temperaturen. Andererseits würde es dann auch kühler in der Wohnung werden und so gerne ich den Regen auch hatte, für Jane war es besser von Sonnenstrahlen geweckt zu werden.

TEARSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt