4« Tears

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Der Wein hatte sich, mit meinem Blut vermischt, ganz hervorragend in den Stoff des Kleides gebrannt und ihn damit endgültig ruiniert.
Diesen Anblick hatte sich Mutter bestimmt nicht für ihr liebstes Kleid gewünscht. Ich seufzte erschöpft.

Im Treppenhaus war es eiskalt und bei jedem Schritt knarzte eine Stufe der klapprigen Holztreppe in den ersten Stock.
Mein Körper stand unter einem merkwürdigen Strom und mir war schlecht, als ich vor der abgewetzten Holztür Halt machte.
Jemand hatte einen violetten Streifen Graffiti darüber gesprüht und die Wände im gesamten Treppenhaus waren ebenfalls mit Sprüchen, Namen und Malereien verziert.

Vor einiger Zeit hatte ich es noch als schön empfunden. Irgendwie brachten diese bestückten Wände eine Einzigartigkeit mit sich, die ich nicht als Geschmiere, sondern als Kunst empfand. An Schönheit hatte ich aber schob lange nicht mehr zu denken. Viel zu viele Dinge bereiteten mir Sorgen, als dass ich mich hier ausruhen und entspannen konnte.
Meine Gedanken kreisten wirr um den grausamen Abend und die vielen Beschimpfungen, denen ich mich heute ausgesetzt hatte.
Es war schrecklich gewesen und mir kullerte erneut eine Träne die Wange hinab, als ich an die Worte meines Chefs dachte.

»Eine Enttäuschung wie dich werde ich nicht länger hier arbeiten lassen. Verschwinde und nimm deine Kündigung gleich mit.«
Und damit war ich gegangen.
Man hatte mich tatsächlich hinausgeworfen und diese barschen Worte hinterließen einen ungemeinen Schmerz in meiner Brust. Ich hatte mich seit langem nicht mehr so schrecklich, so hässlich und so unnütz gefühlt, wie heute.
All die aufgebrachten Worte und Beleidigungen, die von einer Sekunde auf die andere auf mich eingeprasselt waren und mich zu Boden zwangen, schwirrten mir im Kopf und bereiteten mir unentbehrliche Schmerzen.
Dabei hatte ich gar nichts falsch gemacht. Ich war bloß erschrocken, als man plötzlich mit Besteck nach mir warf. Womit hatte man so etwas verdient?
Was glaubten diese reichen Schnösel von sich, dass sie so unwürdig mit anderen umgingen?
Ich hatte mir diesen Abend schlimm vorgestellt, aber das er so grausig sein würde, hatte ich beim
besten Willen nicht geglaubt.

Es fing schon mit den schmierigen Kommentaren ganz zu Anfang an. Noch immer durchlief mich ein widerlicher Schauer, als ich die Hände des weißen Anzugträgers unter meinem Rock spürte.
Er hatte mich angefasst und danach über mich gelacht, als sei nie etwas gewesen. Ich fühlte mich so dreckig, dieser Lage voll ausgenutzt und ich konnte nicht glauben, dass man mich tatsächlich gefeuert hatte.
Die Flasche Wein hatte rein gar nichts mit Missgeschick zu tun. Man hatte mich beworfen! Als sei ich eine Sklavin und kein Mensch, den man mit Respekt zu behandeln hatte.

Mit Ehrlichkeit fühlte ich mich in diesem Moment auch nicht wie im Körper eines Menschen. Heute hatte man mich komplett ausgenutzt, mich, wie einen Wischmopp, über den Boden gezogen und dreckig und ersoffen liegen gelassen. Niemand hatte mich auch nur eines Blickes gewürdigt, der mir ohne Arroganz, Hass und selbstgefälliger Überlegenheit begegnet war.

Ich war ein widerliches Flittchen in den Augen der Geschäftsleute, die mich heute, wie eine Vogelscheuche, durch den Raum geschickt, über mich gelacht und sich lustig gemacht hatten. Das Geld war ihre Schutzhülle und es deckte so hervorragend, dass sie mit mir machen konnten, was sie wollten. Niemand scherte sich um mich und niemanden interessierte es, wie sehr mich die Flasche Wein verletzt hatte. 
Sie waren nur an mir vorbeigelaufen und hatten mit Freude dabei zugesehen, wie man mich gen Ende auch noch geschlagen hatte. Wie konnte man so grausam sein?

»Oh Gott, Tears! Was stehst du hier draußen herum?«
Eine kühle Hand umfasste mein Handgelenk und zog mich ins Innere der Wohnung.
Außer dem quadratischen Fernseher erhellte nichts unsere kleine Vierzimmerwohnung.

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