18« Tears

4.2K 181 9
                                    


Jane und ich lebten schon, seit wir nach Seattle gekommen waren in Downtown.
Wir wohnten im ersten Stock eines kleinen heruntergekommenen Backsteinhauses, das mit Graffiti beschmiert und nicht wirklich bewohnbar aussah. Unsere Nachbarn waren angsteinflößende Einzelgänger, die mir nicht wirklich geheuer waren. Mr Sarck aus dem zweiten Stock war Kettenraucher und seine Zigaretten zog er am liebsten im Hausflur.
Wenn ich ihn im Vorbeigehen ansah, kam er mir immer wie ein vierzigjähriger Vampir vor, der sich nur danach jauchzte mich anzugiften. Meine Schwester und mich konnte er nicht leiden. In ihr sah er ein faulenzendes Stück Arbeit und in mir ein belangloses Püppchen.
Immer, wenn wir aneinander vorbeiliefen, sah er auf meinen Oberkörper und dann mit einem schmierigen Lächeln in meine Augen. Ich ekelte mich vor seinem Blick, doch anfassen, tat er mich nie. Ich hatte trotzdem Angst. Ich wollte nicht länger als zwanzig Sekunden mit ihm alleine sein und darum mied ich seine Anwesenheit, so gut es ging. Jane ebenso.

Mr Truck war nicht besser als Mr Sarck. Truck wohnte im Dachgeschoss des Hauses und hatte meiner Ansicht nach die schönste Wohnung. Über eine Feuertreppe konnte man über die Westseite des Hauses aufs Dach klettern. Die Aussicht war nicht sonderlich spektakulär, von einem dreistöckigen Haus konnte man in Seattle nicht weit sehen. Das Gefühl von Freiheit beflügelte trotzdem und für einen Menschen wie mich, reichte auch die Sicht über den ersten Häuserblock nur um sich zu vergewissern, dass die Welt nicht so klein war, wie sie immer schien.

Ich sehnte mich nach der Aussicht, die ich in San Francisco so genossen hatte. Vor mir die weite Landschaft - Wiesen, Bäume und die untergehende Sonne - und hinter mir die Schönheit San Franciscos. Damals war alles noch in Ordnung.
Heute war es anders. Ich fühlte mich jeden Tag, wenn ich aus dem Fenster sah und die nächste Häuserwand mich im Dunkeln ließ, als sei ich in einem bösen Traum gefangen und in einer Schneekugel eingesperrt, die sich immer wieder schüttelte.
Wie ein Wirbelsturm rissen die Tage an mir vorbei und nahmen alles, was mir wichtig war, mit sich.

So klein in dieser großen Welt hatte ich mich selten gefühlt. Dabei ruinierte mir dieser Tag noch nicht mein Leben.

Jane und ich waren früh aufgestanden. Trotz unserer heiteren Nacht im B-N waren wir hellwach und machten uns um kurz nach sechs auf den Weg zur nächsten U-Bahn-Station.
Jane wollte gerne einmal Tourist in ihrer eigenen Heimatstadt sein und diesen Wunsch erfüllte ich ihr gerne.

Nach ihrem gestrigen Anfall, den Jane letztendlich sehr glaubwürdig auf Asthma geschoben hatte, war der Abend verlaufen, als sei nie etwas gewesen. Jane unterhielt sich ohne Komma mit Daniel, der sich mir auf eine sehr süffisante Weise begrüßt hatte, und wir Erwachsenen brachten eine Geschichte nach der anderen zum besten. Ich hatte mich nach meinem Gespräch mit Davis eilig abgewandt und mich neben Brain und Leah auf die Bank gequetscht - weit weg von Davis der in seinen Alltagsklamotten unglaublich heiß aussah.
Seine dunklen Locken lagen wirr auf seinem Kopf und mir gefiel die Farbe seiner Augen, die das gedämmte Licht mit sich brachte.
Seine Sommersprossen schienen mir dunkler als sonst und sie sprenkelten sogar seine Nase, das hatten sie vorher nicht.
In seinem Pullover und der lockeren Jeans schien er wie ein ganz normaler Mann, der mit seinen Freunden am Abend feiern ging. Im Grunde war er genau das. Ein ganz normaler Mann.
Doch seine Art und Gestik schlussfolgerte doch immer wieder auf seine zweite Identität, die er wahrnahm, sobald er den Wolkenkratzer seiner Firma betrat.

Ich war noch nie in dem Stadtviertel, in dem die Reichen weilten und sich an ihren Imperien maßen. Laut Leah sollte es eine Menge toller Cafés und Boutiquen geben, doch ein Stück Torte war vermutlich teurer, als der Großeinkauf einer sechsköpfigen Familie. Ich war nie auch nur in die Nähe von Bellevue gekommen, dabei lebte ich schon einige Jahre in Seattle.

Das Leben hier bestand für mich nur aus Jane und meinen Jobs, denn ich kämpfte wortwörtlich mit dem nackten Überleben. Ich hatte bisher keine Zeit mich auch nur einen Tag auszuruhen und meine Kasse springen zu lassen. Es war mir bei den niedrigen Bezahlungen einfach nicht möglich. Manchmal sehnte ich mich nach der Ruhe und dem Tage an dem das alles endlich vorbei sein würde.
Dann aber dachte ich an die Realität, mir fiel wieder ein, dass es nie Ruhe geben würde und das ich etwas versprochen hatte, woran ich mich ein Leben lang halten musste. Ich würde es tun. Aus Liebe und nur, weil es Menschen gab, die unter dem Aufgeben etwas ganz anderes verstehen mussten, als ich es tat.
Nach der misslichen Nachricht gestern war mir das Geld für diese Zeit nun aber egal. Mein Leben hatte sich über diese Nacht verwegen und mir war nicht mehr wichtig, was aus mir werden würde. Wenn Jane gehen würde, dann würde sie sowieso alles mit sich nehmen, was auch mich lebendig hielt. Was dann mit der Hülle passieren würde, war egal.

TEARSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt