Rauf, rauf, rauf, immer schön die Treppe rauf

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Elurín rannte, leise und schnell.
Wie ein Schatten huschte er dahin, dem Morgul-Tal immer näher kommend. Dort musste er wirklich vorsichtig sein- eine falsche Bewegung und man hätte ihn entdeckt.

Jetzt, da dem Ringträger eine solche Gefahr drohte, durfte er nichts riskieren. Natürlich- weder Sam noch Frodo waren dumm, aber sie waren keine Kämpfer.
Sie wussten nicht, wie man einen Hinterhalt erriet oder selbst einen legte. Sie wussten nicht, wie man Fallen umging.

Wenn sie angegriffen wurden, war er das einzige, das zwischen ihnen und dem Tod stand.
Dieser Vorstellung, dieser Last, war sich Elurín zuvor gar nicht so bewusst gewesen.

Sie war nicht unbedingt beruhigend.

Vor ihm tauchte die Straße wieder auf, die nach Minas Morgul führte. Die Hobbits hatten sie aus Sicherheitsgründen verlassen- so nah an einem der größten Heerlager in Mordor eine sehr kluge Entscheidung.

Mit Bewegungen, die mittlerweile schon ein Teil seiner Selbst waren, ging er hinter etwas Gestrüpp in Deckung und lauschte auf Schritte, Rufe oder Waffengeklirr.

Nichts.

Absolute Stille.

Zur Sicherheit suchte er noch einmal den Horizont mit den Augen ab, doch als auch das nichts außer Staub und Fels enthüllte, erklärte er den Übergang für sicher.

Schnell huschte der Elb über die Straße und verfiel wieder in ein Dauerlauftempo. Er durfte nicht hetzen. Wichtig war, dass Kankra nicht auf dem Weg der Hobbits lag, und ob er sie einen oder zwei Tage vor ihrem Kommen beseitigte, spielte keine Rolle.

Aber Kankra war ein gefährlicher Gegner. Das bedeutete, er musste sich vorbereiten und Kräfte sparen.
Das war der Grund, warum er für seine Verhältnisse so langsam lief.

Je weiter er kam, desto felsiger wurde der Untergrund. Auch die Straße veränderte sich; sie wurde breiter und war allem Anschein nach erst vor kurzem ausgebessert worden.

Mittlerweile ragten zu beiden Seiten hohe, schroffe Felswände auf. Elurín fühlte sich unwohl, vollkommen von nacktem Stein umgeben zu sein und keinen Weg außer nach vorne oder zurück zu haben.

Außerdem konnte er sich hier, direkt neben der Straße, kaum verbergen. Ein weiteres Mal dankte er den Valar dafür, dass Eluréd damals in Caras Galadhon sein Gewissen überwunden und die Mäntel gestohlen hatte.
Hier waren sie von unschätzbarem Wert.

Vor ihm machte die Straße eine Biegung.
Elurín duckte sich hinter den hohen Randstein des Wegs und schlich vorwärts. Obwohl er wusste, was die Berge enthüllen würden, traf ihn der Anblick von Minas Morgul, der Stadt der Hexerei, wie ein Schlag ins Gesicht.

Die Mauern waren immer wieder von gewaltigen Schultern durchbrochen, die den Turm stützten. Dieser Turm war das Herzstück von Minas Morgul und Heimstatt des Hexenkönigs von Angmar.

Die gesamte Stadt leuchtete in einem grünlichen, unnatürlichen Licht, das Elurín irgendwie an Verwesung erinnerte. Er schüttelte sich.

Der Turm schien stumme Augen zu haben, löste ein Gefühl der Beobachtung aus, als wollte er sagen:
Wir sehen dich. Du glaubst,du kommst unbemerkt durch unser Land, doch wir sehen dich. Du entkommst uns nicht...

Elurín wandte mit Mühe den Blick von der Festungsstadt ab und untersuchte Stattdessen die Felswand, bis er die steile Treppe fand, die sich leicht gewunden nach oben schlängelte und schließlich zwischen den Felsen verschwand.

Der Pass von Cirith Ungol.
Ein Pass ins Verderben, für diejenigen, die nicht wussten, was sie dort erwartete. Und auch für die meisten, die es wussten.

Der Elb holte tief Luft dann schnallte er sich sein Schwert auf den Rücken, damit es ihn nicht beim Klettern behinderte.
Dann sprang er nach oben, krallte die Finger in den Stein und zog sich mit geübten Bewegungen nach oben.

Die nächsten Stunden verbrachte er damit, dem gewundenen Weg mach oben zu folgen.
Manchmal, wenn man ihn wirklich mit einer Treppe vergleichen konnte, wagte Elurín sogar ein schnelleres Tempo.

Während des ganzen Tages legte er nur noch zwei kleine Pausen ein.
Eine, um zu essen und die andere,um sich auszuruhen- was für ihn hieß, dass er eine geschlagene halbe Stunde regungslos dasaß und vor sich hinstarrte.

Bei der Erinnerung daran musste Elurín unwillkürlich lächeln, als er sich endlich auf einen Felsvorsprung zog und tief durchatmete.
Bei Eluréd bedeutete das Starren ins Nichts für gewöhnlich, dass er amgestrengt nachdachte.
Bei ihm selbst hieß es, dass er am Ende seiner Kräfte war.

Schwerfällig ließ er sich auf den Stein fallen. Ein Blick nach unten sagte ihm, dass er an diesem Tag gute dreiviertem der Treppe hinter sich gebracht hatte. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn- morgen würde er Kankra gegenübertreten.

Unbewusst holte er sein Messer und den Wetzstein heraus und begann, die Klinge zu der tödlichen Schärfe zu schleifen, die er von ihr gewohnt war.

Während die Stille von dem vertrauten Gefühl des über Stahl schabenden Wetzsteins erfüllt wurde, begannen Eluríns Gedanken in die Vergangenheit zu schweifen.

Das Messer ließ in sich an Menegroth erinnern. Nicht an den Tag, an dem die Noldor gekommen waren. Sondern an die Jahre davor. Die glücklichen Jahre, in denen Eluréd und er nur zwei elbische Kinder gewesen waren, für die Orks und Morgoth  nur dunkle Gerüchte und ihre Prinzentitel bedeutungslos gewesen waren.

Aber das war vor der Plünderung Menegroths gewesen.
Bevor Andún sie geschliffen hatte, wie Elurín selbst gerade seine Klinge schliff. Eine leichte Traurigkeit beschlich ihn,als seine Gedanken weiter schweiften:

Früher hatten sie geglaubt, dass sie, wenn sie richtig kämpften, genau den gleichen Kampfstil haben würden. Erst Andún, der geheimnisvolle Grünelb, hatte ihre Stärken ans Licht gebracht, hatte dafür gesorgt, dass sich ihre Fähigkeiten gegeseitig ergänzten:

Seine Schnelligkeit und Eluréds Ausdauer.
Die Entschlossenheit seines Bruders und seine eigene Spontanität.
Eluréds Vorliebe für das Schwert und Eluríns Geschick mit dem Bogen.

Sie waren zusammen eine vollkommene Einheit. Und genau das Fehlen dieser Einheit, die Tatsache, dass Eluréd wer weiß wie viele Meilen weg von ihm war, und ihm im  bevorstehenden Kampf nicht beistehen konnte, beunruhigte ihn am meisten.

Seufzend zwang er seine Gedanken zurück ins Hier und Jetzt, und betrachtete seine Klinge. Die Schneider glänzte nun wie eine Warnung. Eine Warnung, dass niemand sie nun ungestraft berühren konnte.

Elurín nickte zufrieden und steckte die Waffe weg. Dann nahm er seine Waffen ab und holte das Öl heraus. Es reichte gerade noch so für einmal.
Achselzuckend verbrauchte er die letzten Reste davon.

Wenn er Kankra besiegen wollte, musste er sie überraschen. Und wenn er sie überraschen wollte, dann durfte sie ihn nicht wittern. Wie er sich danach vor den Orks verbarg konnte er sich später noch überlegen. Das war jetzt nicht wichtig.
Mit einem mulmigen Gefühl blickte er mach oben, dort wo er den Eingang ihrer Höhle vemutete.

Elurín wandte den Blick ab.

Nicht Nachdenken.
Jetzt bloß nicht nachdenken.

Wenn man anfing zu denken, fing man an, sich zu fürchten.
Also befreite Elurín seinen Kopf von allen Gedanken und spürte, wie ihn tiefe Ruhe überkam.

Ich sollte etwas schlafen.
Dachte er.
Ich muss mich ausruhen.

Denn sein Sieg oder seine Niederlage konnte entscheidend sein für das Schicksal Mittelerdes.




Die Wächter der 9 GefährtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt