Eine Zeit für Geschichten

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Aragorn

Erstaunen breitete sich im Saal aus.
Ristilurs Ausruf war für die meisten der Anwesenden überraschend gekommen.
Und vielleicht genau zum richtigen Zeitpunkt.
Denn er hatte nicht nur die Anderen überrumpelt.
Sondern auch die beiden Elben, die vor ihm standen.

Aragorn hätte niemals geglaubt, dass Lûmdir - nein, Eluréd, - so schnell mit offenen Karten spielen würde, doch Ristilur hatte sie in die Enge getrieben.
Und hatte sie ihr Geheimnis offenbaren lassen.
Vielleicht, so dachte Aragorn, als er einen seltsamen, gut verborgenen Ansatz von Erleichterung in ihren Zügen sah, wollten sie es auch gar nicht mehr wahren.
Es war gut so. Denn Ristilur war sein Ass im Ärmel gewesen.
Indem er ihn eingestzt hatte, hatte er mit höchstem Risiko gespielt.

Und er hatte gewonnen.

Er sah zu Elrond hinüber, der die beiden reglos verharrenden Elben musterte. Auch er sah überrascht aus.
Hatte er Ristilur nicht geglaubt?
Es stimmte ja, wie Prinzen sahen sie nicht aus, wie sie da standen, in ihren Kleidern aus Leder und verblichenem Stoff und ihren wettergegerbten Gesichtern.

Und doch strahlten sie etwas aus, das sie auf ihre Art und Weise von den anderen Elben unterschied - etwas großes.
Nein, es gab zu viele Hinweise, als dass man ihre Herkunft länger verleugnen konnte.
"Ihr habt dieses Geheimnis so lange bewahrt. Zu welchem Zweck? Warum...Warum seid Ihr nie zurückgekommen?"

Es waren die ersten Worte, die Elrond an die beiden richtete und seine Stimme hatte sowohl einen überraschten also auch einen anklagenden Unterton.
Eluréd drehte sich zu ihm um.
"Es war eine Notwendigkeit. Und gleichzeitig eine Maßnahme, um euch zu schützen."

Sie zu schützen? Aragorn trommelte mit den Fingern auf die Armlehne seines Thrones.
"Was meint Ihr damit?," fragte Elrond. Er war ein paar Schritte auf seine verschollenen Verwandten zugegangen.
Dieses Mal antwortete Elurín. Sie schienen wie durch eine unsichtbare Bindung genau zu wissen, wer wann, was und wie viel sagte.

"Wir waren nicht untätig. Und auch, wenn hier niemand etwas von uns wusste, waren wir in Mordor doch schon lange ein Problem. Auf unsere Köpfe war ein Preis ausgesetzt, und ich kann euch versichern, es war kein geringer. Wir wollten ihnen kein Druckmittel geben."

Elrond antwortete nicht.
Er sah die beiden einfach nur an.
Lag immer noch ein Vorwurf in seinem Blick? Nein, nur Neugier und Erstaunen.

"Und davor? Ihr seid regelrecht aus der Geschichte getilgt worden. Was ist geschehen, in der Nacht als Menegroth brannte?"
Die Frage kam von Gandalf, dem einzigen in der Ganzen Gruppe, der nicht überrascht zu sein schien.
Aragorn Schnaubte.
Wie immer hatte er mehr gewusst, als er gesagt hatte.

Der König sah, wie die beiden Brüder einen Blick wechselte.
Dann hob Eluréd den Kopf. Der Elb atmete tief durch.
Und begann zu erzählen.

Elurín

Mit geschlossenen Augen hörte er zu, wie Eluréd ihre Geschichte erzählte.
Er begann bei der Plünderung von Menegroth, ihrer Entführung und ihrer Rettung durch den Grünelben Andún, dessen Vergangenheit und Motive sie niemals erfahren hatten.

Kurz riss er an, wie sie die Wirren nach dem Krieg des Zorns genutzt hatten, um sich in den Norden von Eriador zurückzuziehen. Als sie gehört hatten, dass es selbst nach Morgoths Sturz noch Blutvergießen unter den Noldor gab, wanderten sie weiter nach Osten, mit dem Ziel, all das hinter sich zu lassen.

Die Geschehnisse am Anfang des zweiten Zeitalters waren schnell erzählt: sie hatten zurückgezogen gelebt und sich nicht groß für die großen Belange Mittelerdes interessiert. Sie waren vollauf damit zufrieden gewesen, niemand zu sein.
Im Moment erschien es ihnen am sichersten.

Aber als Saurons Macht größer wurde, begannen sie, an diesem sorglosen Leben zu zweifeln.
Sie waren in der Lage, dieser Welt zu helfen.
Warum taten sie es nicht?
Also hatten sie die Rostflecken aus ihren Schwertern geschliffen und waren nach Osten und Süden gewandert, wo sie Saurons Dienern das Leben zur Hölle machten.

Dieses Verhalten behielten sie über all die Jahre bei, nur ein dunkler Schatten in den Geschichten, die sich die Orks am Feuer erzählten.
Als Eluréd mit seiner Erzählung zum Ende kam, waren sie am Anfang ihrer Reise im Auenland angekommen, nachdem sie Gandalfs Umtriebigkeit bemerkt und er von ihnen verfolgt worden war.

Eluréd verstummte und senkte den Kopf, als hätte ihn diese Enthüllung unendlich erschöpft.
Elurín blickte in die Runde und zu seiner Überraschung fühlte er sich nicht beunruhigt. Alles, was er empfand, war Erwartung und eine seltsame Form von Erleichterung.

Elrond stand immer noch an seinem Platz und er musterte sie aus neuen Augen.
Was er wohl dachte?
Sie hatten so lange Zeit als tot gegolten, hatten so lange Zeit im Verborgenen gelebt.
Dennoch fühlte sich Elurín dem Halbelben mehr verbunden als jedem anderen außer Eluréd. Er wollte unter keinen Umständen, dass Elrond sie für Verbrecher oder Feiglinge hielt.

"So viele Orks, die wir gefangen nahmen, haben von euch gesprochen," meinte Elrond schließlich leise, "Sie haben uns gefragt, wo wir denn unsere beiden Schatten hätten. Wenn ich gewusst hätte, wer ihr seid...wenn ich etwas geahnt hätte..."

"Es war unsere Absicht, dass niemand etwas erfährt,"unterbrach ihn Elurín und versuchte, ihre Entscheidung so gut es ging zu erklären, "Denn wir haben festgestellt, wie sehr uns diese Unwissenheit unserer Feinde geholfen hat - sie hatten mehr Angst vor uns, als sie eigentlich hätten haben müssen. Es hat uns viele Dinge erleichtert. "

Ein langsames Nicken.
Es war Elronds einzige Reaktion.
Doch Elurín war sich sicher, etwas wie Verständnis in seinen Augen zu sehen.
"Wohin habt Ihr euch eigentlich zurückgezogen, wenn Ihr keinen Orks aufgelauert habt?,"fragte Aragorn plötzlich von seinem Thron herab, und er klang weder spöttisch noch missbilligend, sondern einfach nur neugierig, "man hat selbst dann nie etwas von euch gehört. Wo habt ihr gelebt?"

Neben ihm hob Eluréd die Schultern.
"Da und dort. Wie blieben nie länger als ein paar Monate. Mal war es zu gefährlich, mal hatten wir etwas zu erledigen. Aber wir haben überall Orte, von denen wir wissen, dass sie sicher sind."

"Und Ihr hattet vor, dieses Leben wieder aufzunehmen, "warf Elrond entgeistert ein, "auch jetzt, nachdem das Böse besiegt wurde?"
Elurín seufzte.
"Vermutlich, ja. Aber jetzt, da jeder weiß wer wir sind...wer weiß..."

Elrond zögerte kurz, doch dann trat er einen weiteren Schritt auf sie zu, sodass er nun direkt vor ihnen stand.
"Ich habe," begann er leise, ",Wie wahrscheinlich jeder hier Anwesende - lange geglaubt, Ihr wärt tot. Euer Schicksal erschien mir als grausam und ungerecht.
Deswegen freut es mich umso mehr, dass es Euch erspart geblieben ist - und ich Euch kennenlernen kann."

Er lächelte und mittlerweile leuchtete Freude und Verbundenheit aus seinen Augen. Sie lächelten zurück, doch dann fuhr Elrond fort:
"Und es wäre mir eine Freude, wenn Ihr...wenn Ihr mit mir nach Bruchtal kommen wollt...Als die, die Ihr wirklich seid. "

Ihr Lächeln verschwand augenblicklich.
Elurín und Eluréd sahen sich ungläubig an, als ihnen beiden bewusst wurde, was dieser kurze Satz bedeutete.

Denn was Elrond ihnen da anbot war wertvoller als alles andere.
Etwas, nach dem sie sich, tief in ihrem Inneren, schon so lange gesehnt hatten.
Ein Ort, an dem sie willkommen waren.

Eine Heimat.

Die Wächter der 9 GefährtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt