Die Spuren des Schattens

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Elurín

Als Elurín aufwachte, wusste er im ersten Moment nicht, wo er sich befand.
Was er sehr wohl wusste, war, dass er gefesselt war, dass er Rippenprellungen und höllische Kopfschmerzen hatte.

Das nächste, das er wahrnahm, war die Tatsache, dass er auf einem kalten Steinboden lag. Um ihn herum war es vollkommen still.
Davon überzeugt, allein zu sein, öffnete er die Augen und erblickte einen kreisrunden, steinernen Raum.

Die einzigen Möbelstücke waren Tische, die rings an den Wänden standen. Durch ein Loch im Boden ragte eine Leiter.
Er war in einer Festung.
Einer Orkfestung.

Da endlich flutete die Erinnerung zurück.
Er hatte gegen Kankra gekämpft.
Hatte sie verwundet.
Und dann war er bewusstlos geschlagen worden.

Die Orks mussten seine Benommenheit ausgenutzt und sich an ihn angeschlichen haben.
Elende Dreckskerle.
Elurín blickte sich weiter in dem Raum um, inspizierte das, was auf den Tischen lag.

Erleichtert entdeckte er seinen Schwertgurt auf dem Tisch ihm gegenüber liegen. Als er sich weiter umsah, aber weder seinen Bogen noch seine Bündel oder sein Messer entdeckte, kam er zu dem Schluss, dass die Orks seine Sachen bei der Höhle übersehen hatten.

Nachdem er seine Bestandsaufnahme abgeschlossen hatte, untersuchte er seine Fesseln.

Robuste Seile um Handgelenke, Knöchel und Knie. Seine Hände waren hinter dem Rücken zusammengebunden und die Fesseln um seine Beine machten es ihm fast unmöglich, zumindest auf die Knie zu kommen.
Er versuchte es ein paar mal, doch als er Schritte in dem Gang unter ihm hörte, Schritte, die die Leiter hinaufstiegen, lag er sofort wieder still, schloss die Augen und flachte seine Atmung ab.

Ein Fehler.
Aus Sicht der Orks schlief er anscheinend schon zu lange und langsam ging ihnen die Geduld aus.
Im einen Moment spielte er noch den Bewusstlosen.
Im nächsten Moment krümmte er sich und schnappte nach Luft, als ihm einer der Orks - es waren zwei - in den Bauch trat.

"Wird auch langsam Zeit."
Knurrte einer der beiden, während er auf den hustenden Elben hinabblickte.
Elurín holte ein paar mal tief Atem, während sein ohnehin schon schmerzender Körper den Hieb verarbeitete.

Wäre er nicht schon gelegen, dann hätte er ihn sicher zu Fall gebracht.
Dem Elb lag schon irgendein giftiger Ausruf auf den Lippen, doch er hielt ihn zurück.
Er lag hier gefesselt in einem Orkturm und hatte im Moment keinerlei Ausweg. Es war besser, den Mund zu halten, abzuwarten und die Orks zu ertragen.
Solange er sie nicht provozierte, konnte es so schlimm nicht werden.

Er hoffte es zumindest.

"Also,"ertönte die schnarrende Stimme des einen Orks erneut, "Was hast du am Pass getrieben, Elbling?"
Elurín schwieg und konzentrierte sich auf seinen Atem.
Da packten ihn zwei grobe Hände an den Schultern und rissen ihn schmerzhaft hoch.
"Warum warst du am Pass?"
Zischte der Ork zornig.

Er war Elurín nun so nah, dass er dessen stinkenden Atem riechen konnte.
Doch der Elb schwieg.
Er ließ sich nicht einschüchtern.
Der Ork knurrte wütend und stieß Elurín zurück. Dessen ohnehin schon schmerzenden Rippen versetzten ihm einen heftigen Stich, der ihn aufkeuchen ließ, als er an die Wand prallte und zu Boden sank.
Kurz wurde es schwarz.

Im nächsten Moment hörte er das Singen von Stahl, der aus der Scheide gerissen wurde.
Als endlich die Schwärze von seinen Augen wich, sah Elurín sich einem Schwert gegenüber. Und zwar keinem orkischen Krummschwert.
Sondern seiner Klinge, die ihm an die Kehle gehalten wurde.

"Warum bist du nach Mordor gekommen? Sag es, oder ich schneid dir die Kehle durch," zischte der Ork, der bis jetzt still gewesen war.
Plötzlich lachte Elurín auf. Er konnte nicht anders.
"Und was genau bringt Euch das? Wenn ich jetzt nichts sage, dann bringt ihr mich um und ihr erfahrt nie, was ihr wissen wollt!"

Die Orks stutzten.
Verwirrt sahen sie sich an, dann zog der eine das Schwert von Eluríns Hals zurück.
"Du hältst dich wohl für ganz schlau, oder?", zischte der, der ihn getreten hatte, "Keine Angst, wir bringen dich schon zum Reden!"
Bei diesem Satz lachten sie beide auf, doch dann verließen sie endlich den Raum.
Sein Schwert nahmen sie mit.

Elurín verzog das Gesicht zu einem Grinsen.
Es war gut gelaufen.
Besser als gut, stellte er fest, als er über die Schneide des gestohlenen Messers fuhr und die Schärfe spürte.
Die Orks waren dumm genug gewesen, um darauf reinzufallen.

Denn in dem Moment, als der Ork ihn hochgerissen hatte, hatte Elurín ihm das Messer aus dem Stiefel ziehen können. Ein uralter Trick, aber er funktionierte.
Ob er sich nun für ganz schlau hielt?
Naja, vielleicht etwas.

Jetzt musste er nur noch warten, bis der Zeitpunkt günstig war und verschwinden.

Sam

Stich leuchtete blau auf.
Sam, der verzweifelt seinen toten Freund und Herrn in den Armen hielt, hörte erst jetzt die Stimmen, die sich ihm näherten.
Schweren Herzens legte er Frodos eingesponnenen Leichnam zu Boden, packte Stich und flüchtete hinter einen Felsen.

"Hat die alte Kankra mal wieder einen abgemurckst, wie?"
Sam lugte hinter den Felsen hervor und sah einen Orktrupp, der sich um Frodo versammelt hatte.
Einer stupste ihn mit einer Peitsche an. "Oh nein. Dieser Bursche ist nicht tot. So frisst sie am liebsten. Frisches Blut."

Er wandte sich von Frodo ab und richtete das Wort an seine Männer.
"In den Turm mit ihm! Bringt ihn zu dem Andern!"
Die Orks nahmen Frodo auf und trugen ihn davon, während sich Sam hinter den Felsen selbst verfluchte.
Frodo lebte!
Sein Herr war am Leben!
Diese Orks hielten ihn gefangen, aber er würde ihn befreien.

Sam trat einen Schritt zurück und wollte sich an der Felswand hinter ihm abstützen, doch anstatt Stein traffen seine Finger auf Leder.
Verwirrt blickte der Hobbit sich um und sah erstaunlicherweise ein Reisebündel neben einem großen Bogen liegen.
Bringt ihn zu dem Andern, hatte der Orkhauptmann gesagt.

Gehörten diese Sachen ihm?

Sam kniete sich hin und öffnete das Bündel. Es gehörte definitiv keinem Ork.
Es befand sich zu Sams großer Überraschung ein Lorienmantel darin, sowie ein kleiner Vorrat an Lembas. War dieser Andere etwa ein Elb? Ein Spion aus Lothlorien oder etwas dergleichen?

Sam kratzte sich am Kopf und da fiel ihm plötzlich Ithilien wieder ein.
Der Schatten in Osgiliath, der auf den Nazgûl geschossen hatte. Man hatte ihn vor dieser Mauer kaum gesehen, weil er einen Elbenmantel getragen hatte. Der Hobbit schüttelte den Kopf, stand auf und suchte mit den Augen noch einmal den Schauplatz des Kampfes ab.

Da entdeckte er etwas, das ihm zuvor entgangen war: ein langes Messer auf dem Boden, von ähnlicher Machart wie die von Legolas. Sam bückte sich und hob die Klinge auf. Daran klebte Kankras Blut, genau wie an Sams eigenen Händen.
Er war hier gewesen und hatte gegen diese Spinne gekämpft.

Wer war er?
Was wollte er?

Wie oft hatte Sam in der Nacht geglaubt,  beobachtet zu werden, wie oft hatte er es als Hirngespinst abgetan?
Wieder sah er auf die Waffen und das Bündel hinab. Es waren die ersten greifbaren Hinweise auf ihren Verfolger.

Es waren die Spuren des Schattens.

Sam hob den Kopf und blickte zu dem Orkturm hinüber. Wenn der zweite Gefangene tatsächlich der Schatten war, dann war er ein Freund.
Und dann, dachte Sam entschlossen, würde er ihn ebenso retten, wie er Frodo retten würde.

Die Wächter der 9 GefährtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt