|5| Dunkle Schwingen | ✓

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☽- ❞Karfunkel Saga❝ - ☾
V

Das späte Abendgold senkte sich still und heimlich hinter den Bergen. Die lauen Lüfte der Dämmerung wallten in der herannahenden Finsternis zu stürmischen Böen auf. Laub tanzte über die Kronen grüner Riesen. Auch die Baumwipfel waren dem aufziehenden Sturm ergeben und neigten sich nach seinem Willen.

Der Frühling stand wahrlich auf wackeligen Beinen. Beinahe gewann man den Eindruck, als wäre ein unerbittlicher Winter im Vormarsch. Denn die kalten Winde wirbelten neben den Blättern tiefweiße Flocken durch die Luft. Die Boten des Winters blieben an den äußeren Baumkronen haften, welche noch vom milden Licht der Abendsonne erhellt wurden.

Während Koralie auf Abraxas durch den düsteren Wald ritt, war sie umgeben von einem wehmütigen Trauerspiel aus knarzenden Bäumen und zischenden Blättern. Ein blasser Flammenschimmer fiel auf den Weg, der furchteinflößende Schemen auf den Boden malte. Schatten mit großen Fratzen und langen Klauen tauchten im Dickicht auf. Koralies Herzschlag beschleunigte sich zunehmend.

Hätte das beschauliche Farbenspiel am Himmel ihr nicht den Weg erhellt, wäre sie bestimmt noch aufgeregter gewesen. Der warme Schein tauchte die Umgebung in ein blasses Rot, das an den äußeren Rändern der Blätter wie züngelnde Flammen entlang waberte.

Koralies Herz raste schließlich. Hinter jedem Baum und hinter jedem Busch sah sie etwas lauern. Einmal raschelte es hier, dann wieder dort. Ihre Hirngespinste machten sie langsam wahnsinnig.

Abraxas hingegen schnaufte seelenruhig durch seine Nüstern. Gewissermaßen wirkte er unerschütterlich, als könnte ihn nichts und niemand aus der Ruhe bringen. Unter den Hufen des Rappen knisterte das Laub geheimnisvoll und manchmal knackten sogar einige Äste, die unter seinem Gewicht entzwei brachen. Mit sicheren Schritten folgte das Pferd dem schmalen Waldpfad, dem sich einige Zweige und Gestrüpp entgegen neigten. Abraxas war Koralies Ruhepol. Er gab ihr den Mut, der ihr manchmal fehlte.

Das junge Mädchen schmiegte sich immer verzweifelter an ihre viel zu dünne Strickweste, die sie nicht ausreichend Wärme spendete. Je tiefer sie in dem Wald ritt, desto eisiger wurden die Temperaturen.

Schließlich war die Luft so dünn, dass es Koralie die Kehle zuschnürte und sie kaum mehr atmen konnte. Die unerträgliche Kälte brannte wie Feuer in ihren Lungen und zwang sie zu einer Reitpause. Sie stieg von Abraxas ab und führte ihn auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen für eine kurze Rast, durch den Wald.

Bald schon machte Koralie von weitem eine kleine Lichtung im Wald aus. Zielsicher lenkte sie ihren Rappen zu dem idyllischen Waldsee, der sich unscheinbar zwischen den Bäumen befand. Inmitten hoher Gräser ließ sie den Rappen zur Ruhe kommen. Koralie erkundete währenddessen die Umgebung des Sees. Bis auf die enorme Kälte schien hier alles in bester Ordnung zu sein.

Einige Frösche quakten laut und besetzten die stechend grünen Blätter der Seerosen. Diese hielten sich zumeist im Schutze des Schilfs verborgen. Über dem stillen Gewässer flatterten zahlreiche bunt schimmernde Schmetterlinge und Libellen in allen Größen. Türkisblaue Glühwürmchen, die wie funkelnde Sterne knapp über dem Wasser schwirrten, verliehen dem Waldsee einen Hauch von Magie. Das romantische, im Verborgenen liegende Gefilde erschien geradezu unwirklich.

Jenseits des kleinen Waldsees auf einem flachen Hügel stand ein anmutiger Hirsch, der zwischen den Farnen im Dämmerungslicht genüsslich äste. Die letzten Sonnenstrahlen verliehen seinem dunkelbraunen Fell einen brandroten Schimmer. Als der Hirsch das Mädchen bemerkte, hob er blitzartig den Kopf und gab sein prachtvolles Geweih zu erkennen. Wie angewurzelt stand das Tier lediglich da und bewegte sich kaum einen Zentimeter. Seine großen, glänzenden Augen waren auf Koralie fixiert, doch obwohl sein Körper gänzlich unter Strom stand, zeigte dieser keine Angst. Als das Tier dann dem Mädchen friedfertig zuzwinkerte, lächelte sie.

Die Legende der Kronluchse | 1  ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt