Kapitel 1. Ein Fehler

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Sie hatte nie geplant, schwanger zu werden. Es war falsch, sie wollte kein Kind, nicht von einem von ihnen. Sie konnte sich doch kaum selbst versorgen und nun hätte sie auch noch ein hungriges Baby an der Backe, das durch den Winter gefüttert werden musste.  Wahrscheinlich würde sie es gleich nach der Geburt irgendwo loswerden, aber es war unglaublich ärgerlich, dass sie während ihrer Schwangerschaft nicht arbeiten durfte. Wer wollte auch eine schwangere Stripperin ficken? Genau! Absolut niemand! Es war keinesfalls so, dass Noelle Lawliet in irgendeiner Form an ihrer mehr oder weniger anerkannten beruflichen Tätigkeit hing, aber deren Notwendigkeit war nun einmal nicht zu leugnen. Und ihr wundervoller Arbeitgeber hatte bestimmt nicht vor, sie in irgendeiner Weise finanziell zu entschädigen.

Hätte die Zwanzigjährige sich doch nur für eine Abtreibung entschieden, bevor sie den schwachen Tritt in ihrem Unterleib gespürt hatte. Denn dann war es zu spät. Noelle sah ein, dass sie es nicht konnte. Die junge Frau wollte sich nicht damit abfinden, dieses Kind nur wegen ihrer finanziellen Probleme zu töten. 
Noelle war stur und hatte sich kurzerhand in den Kopf gesetzt das Baby, ihr Baby, das Licht der Welt erblicken zu lassen. Ein Fehler, wie die Schwarzhaarige sich in diesem Moment eingestehen musste. 

Keuchend krümmte sie sich auf der bereits stark mit Blut besudelten Couch. 
„Nina…? NINA!“, kreischte sie, als sie zwischen den schier unerträglichen Krämpfen wieder etwas Luft zum Atmen fand. Ihre Freundin, die sie während der letzten sieben Monate in der kleinen Wohnung beherbergte, war sofort mit einigen Tüchern und einer großen Schüssel Wasser zur Stelle. 
„Noelle? Bis du sicher? Es ist zu früh…“, erkundigte sich die blonde Frau panisch. 
„Natürlich bin ich…ARGHH…sicher!“, keuchte Noelle erstickt, als eine weitere Wehe sie wie eine überdimensionale Welle überrollte. Nina drückte fest die blasse Hand ihrer Freundin und überlegte fieberhaft, wie sie der Schwarzhaarigen irgendwie helfen könnte. 

„Ich...ich muss einen Arzt holen!“
„Nein! Nicht, bitte, ich schaff das sch…scho…“ Ein weiterer schriller Aufschrei kam über ihre Lippen und Nina sprang entschlossen auf. 
„Noelle, hör auf! Mit deiner Sturheit wirst du das Baby noch umbringen!“, zischte sie und blickte der jungen Frau streng in die glasigen, an zwei schwarze Teiche erinnernden, Augen. 
„Es ist fast zwei Monate zu früh!“, argumentierte sie weiter und fuchtelte wild mit den Armen. Noelle schüttelte nur schwach den Kopf. 
„Nicht.“, brachte sie stöhnend hervor und die Blonde seufzte. 
„Du benimmst dich wie ein Kleinkind! Die Hebamme wird dich nicht verraten, ich versprechs! Bitte lass dir helfen!“
„Nein!“, brüllte sie mit letzter Kraft. Nina gab resigniert auf und begnügte sich damit, die Hand ihrer Freundin stärker zu umklammern und sie zum richtigen Zeitpunkt zum Pressen zu animieren.

Acht Stunden später starrte sie verblüfft das kleine verklebte Bündel in ihren dünnen Armen an. Endlich!
„Noelle! Noelle, es ist ein Junge!“, verkündete sie erleichtert. Noelle hob geschwächt den Blick und fixierte angestrengt das zitternde Baby. 
„Nina, hör zu. Bring es zur Kirche…die Schwestern kümmern sich um…“ Ihre Stimme versagte und sie blinzelte wie betäubt. 
„Aber wieso? Noelle…Noelle? NOELLE!!!“ Die Schwarzhaarige antwortete nicht, und zeigte auch sonst keinerlei Reaktion. Sie lag nur stumm in der Blutlache auf der Couch und ihre leicht erhobene Hand senkte sich langsam auf die beschmutzten Kissen. Ihre Augen wurden leer. Ausdruckslos.

„Noelle, komm schon!“ Ungläubig blickte sie die Leiche an, die blauen Augen weit aufgerissen vor Entsetzten. Leises Schluchzen durchbrach die bedrückende Stille. Das Kind rührte sich nicht. Dann ein kaum vernehmbares Flattern der zierlichen Brust und Sekunden darauf ein plötzlicher Schrei.

Nina ließ das Baby beinahe vor Schreck fallen. Es war voller Blut und auf dem kleinen Kopf waren bereits vereinzelte schwarze Haare zu erkennen. Es schlug mit einem dürren Ärmchen in die Luft und stieß einen weiteren Schrei aus. Nina drängte ihr Entsetzen in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins und wusch das Baby behutsam in dem vorbereiteten Behältnis. 
„Es ist ein Wunder, dass du lebst, weißt du das?“, flüsterte sie zittrig. Und Noelles Tod ist deine Schuld.

Nein! Nina schüttelte den Kopf und ihre blonden Locken flatterten. Noelle wollte das Baby, sie hatte es so gewollt und Nina wusste das. Seufzend warf sie der zusammengesunkenen reglosen Gestalt auf dem blutigen Sofa einen schmerzerfüllten Blick zu. Elle…

2 Tage später

Die schwere Holztüre öffnete sich mit einem lauten Knarren und die Silhouette einer älteren Frau erschien im Türeingang.  Die gekrümmte Gestalt streckte den Kopf nach draußen, um nach dem Verursacher des Klopfens zu suchen und dann so schnell wie möglich wieder dem strömenden Regen zu entfliehen. Alles was die Nonne fand, war ein zitterndes Bündel auf den steinernen Stufen. Ein kleiner Zettel war an dem Stoffballen befestigt, und die Schwester erkannte ein in eine Decke eingewickeltes Baby, das ein kaum hörbares Wimmern ausstieß. Seufzend schüttelte die betagte Frau den Kopf. 
„Nicht schon wieder eins…“, murmelte sie und hob widerwillig das winzige Kind hoch. Murrend trug sie das Baby ins Innere des Waisenhauses und schnappte sich den durchweichten Zettel. Sie bemühte sich, die fast vollständig verlaufene Schrift zu entziffern. Schließlich konnte sie ein paar vereinzelte Buchstaben erkennen.

L Lawliet

31. 10. 1982

L's Geschichte (Death Note) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt