Kapitel 5. Gerettet

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L brauchte einige Momente um das eben gesagte zu verarbeiten. Er musste sich verhört haben. Genau, das war es. Ein simpler Defekt seiner Hörorgane. Mit geweiteten Augen starrte er den fremden Herrn perplex an und sein Mund klappte unkontrolliert auf und zu wie der eines gestrandeten Goldfischs. Vielleicht hatte er doch richtig gehört? Verzweifelte Hoffnung breitete sich in seinem zerschlagenen Körper aus und sein Atem beschleunigte sich noch mehr.

Der Mann streckte wieder eine Hand nach L aus und dieser kam zu dem Schluss, dass er irgendetwas falsch gemacht hatte. Er bemühte sich vergeblich, vor der Hand zurückzuweichen, doch diese packte ihn nur leicht unterm Kinn und hob seinen Kopf etwas an, so dass er L in die nachtschwarzen Augen blicken konnte.
"Keine Angst, ich hol dich hier raus…", erklärte er mit angenehm sanfter Stimme. L blinzelte verwirrt und seine dunklen Augen weiteten sich noch mehr. 
"Sir, hab ich…hab ich irgendwas Falsches gemacht?", fragte er niedergeschlagen. 
"Nein hast du nicht, und jetzt pack deine Sachen, wir reisen sofort ab. Du kannst mich übrigens Watari nennen." 

Wenn er nichts falsch gemacht hatte, warum sollte der Fremde ihn dann mitnehmen? Ein Funken Misstrauen keimte in dem jungen Genie auf. Sollte das irgendein grausamer Scherz sein? Oder...Er wollte ihn doch nicht etwa wirklich adoptieren? 

Ein warmes Gefühl breitete sich im Körper des Kindes aus ohne weiter über sein respektloses Verhalten nachzudenken, warf er sich nach vor in die Arme des Mannes, der ihm etwas überrascht übers zerzauste Haar streichelte.
"Danke!", flüsterte der Kleinere.

Überglücklich sprang er auf und zappelte nervös.
"Gehen wir jetzt sofort?", fragte er ungeduldig. 
"Du musst dich doch noch von deinen Freunden verabschieden und deine Sachen packen, Kleiner.", versuchte Watari ihn zu beruhigen, aber Ls Gesicht verdüsterte sich nur. 
"Ich habe weder das eine noch das andere. Können wir jetzt bitte los?", fragte er flehend. 
Der Alte schien zu überlegen, nahm schließlich Ls kleine Hand und drückte diese kurz. 
"Wir gehen sofort zum Arzt. Ich habe aber noch ein paar Worte mit Schwester Wyler zu wechseln."

Diese stampfte gerade drohend aus ihrem Arbeitszimmer und knallte einige Dokumente vor Watari und L auf den Tisch. Der alte Mann nahm seelenruhig den Stift und unterzeichnete einige Papiere, während L versuchte, einen flüchtigen Blick auf eines der Blätter zu erhaschen.

Nach etwa zehn Minuten erhob Watari sich ächzend und warf der immer noch aufgebrachten Nonne einen abschätzigen Blick zu. 
"Von einer Ordensschwester hätte ich bessere Führungsqualitäten erwartet. Sie werden noch von mir hören.", verabschiedete er sich kalt. 

L griff währenddessen zaghaft nach Wataris Arm und versteckte sich scheu hinter seinem Rücken, da einige andere Kinder  ihn unverhohlen eifersüchtig musterten. Einer streckte ihm die Zunge heraus und rief:
"Dich bringt er sowieso wieder zurück, Ellie!" 
L umklammerte den Arm seines neuen Vormunds etwas fester und senkte beschämt den Blick. Watari schüttelte nur geringschätzig den Kopf und zog seinen neuen Schützling bestimmt in Richtung Tür.

Draußen schien zum ersten Mal seit Tagen wieder die Sonne und Lawliet blinzelte in das ungewohnt helle Licht. Immer noch humpelnd versuchte er, mit Watari Schritt zu halten, als dieser ihn kurzerhand hochhob und zu einer wunderschönen pechschwarzen Limousine trug. 

L staunte nicht schlecht über den luxuriösen Wagen und berührte zögernd die mit hellem Leder bezogenen Sitze, als Watari ihn behutsam auf den Beifahrersitz setzte und anschnallte. Der alte Herr bemühte sich, keine der blauen Flecken oder Schrammen des Jungen zu streifen, da dieser ständig zusammenzuckte und fiepte, wenn er das tat.

Schließlich war Lawliet erfolgreich verstaut und der Mann stieg ebenfalls ein. Als er den Motor startete, umklammerten Ls Hände aufgeregt seinen Sitz,  er hatte immerhin noch nie in einem echten Auto gesessen, geschweige denn war er in einem gefahren. Als der Wagen durch das eiserne Tor nach draußen fuhr, warf der Schwarzhaarige einen letzten Blick auf das Waisenhaus und Wogen aus Erleichterung durchströmten ihn. Endlich weg von da!

"Du heißt Lawliet, oder? L Lawliet.", erkundigte Watari sich nach kurzem Schweigen.
"Ja, Sir.", erwiderte L, er achtete darauf, den Mann in keiner Weise zu verärgern oder etwas Falsches zu sagen, aus Angst er könne ihn wieder zurückbringen.
"Danke.", fügte er dann noch leise hinzu und seine Augen brannten erneut. Watari warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. 
"Heißt du einfach nur L, oder ist das eine Art Abkürzung für irgendetwas?" L nickte tonlos. 
"L steht für Loser, lahm oder lächerlich.", erklärte er ohne zu zögern. Watari runzelte die Stirn und Panik erfasste den Jungen. 
"Tut mir leid, ich wollte Sie nicht verärgern!", rief er sofort und gab sich eine mentale Ohrfeige.

Watari hielt plötzlich an und L beobachtete entsetzt, wie er ausstieg. Er begann mitleiderregend zu weinen und schüttelte nur immer wieder den Kopf. 
"Nicht zurückfahren!", murmelte er verschreckt, aber Watari öffnete nur stumm die Beifahrertüre und schloss L in die Arme.  Dieser erstarrte und verstand plötzlich gar nichts mehr. Der alte Mann umfasste sanft seine schmalen Schultern und schüttelte ihn kurz. 

"Hör mir jetzt gut zu.", fing er an und L machte sich schon auf eine Standpauke gefasst, die fingen immer so an…
"Ich weiß nicht, was man dir in diesem Irrenhaus erzählt hat, aber das ist nicht wahr. Ich werde dich weder zurückbringen, noch schlagen oder aussetzten. Du hast nichts falsch gemacht und wie Schwester Wyler dich behandelt hat, war nicht in Ordnung.", erklärte er fest. L sah ihn nur verwirrt an und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.
"Warum tun Sie das für mich, Sir?", fragte er dann unsicher. 
"Watari und ‚Du‘ bitte.", wies er Lawliet an und dieser nickte stumm und bekam sein unkontrolliertes Schluchzen langsam wieder in den Griff. Verlegen über seinen Ausbruch versteckte er wieder das Gesicht in den Händen und wandte sich betreten ab.
"Entschuldigung…", murmelte er kaum hörbar.

….

Watari seufzte leise. Dieses Kind brauchte dringend einen Arzt und außerdem einen Psychologen. Er erkannte weder, wieso es sich bei dem Kleinen um ein "Problemkind" handelte, noch wieso Wyler es offenbar ganz besonders auf ihn abgesehen hatte. Sie hatte regelrecht über ihn geschimpft, als Watari sie nach den Adoptionsformularen fragte, dabei war der Kleine doch offenbar einfach nur verschüchtert und traumatisiert. 

Sein ursprünglicher Plan mit den IQ-Tests musste jetzt erst einmal warten und der Erfinder warf dem schlafenden L neben sich einen liebevollen Blick zu. Als er vor dem Krankenhaus hielt war es bereits sehr spät am Abend und er ärgerte sich über die abgelegene Lage des Waisenhauses und den für diese Uhrzeit unnatürlich geschäftigen Verkehr. 

Einen erneuten Seufzer ausstoßend beugte er sich über L und hob ihn vorsichtig hoch. Langsam, um den Schwarzhaarigen nicht zu wecken, ging er auf die medizinische Einrichtung zu und betrat das immer noch hell erleuchtete Gebäude. Eine Krankenschwester bemerkte den schlafenden Jungen in Wataris Armen, wuselte aufgeregt auf ihn zu und faselte etwas von Stress und zu wenigen Zimmern. Dennoch nahm sie dem betagten Erfinder das Kind ab und schleppte es auf eine bereitstehende Trage, die sogleich einen der Flure entlanggeschoben wurde. Watari folgte ihr müde. 

Die Krankenschwester betrat einen kleinen weiß gestrichenen Raum, in dem es stark nach Desinfektionsmittel und aus unerfindlichen Gründen nach frischer Minze roch. Sie rief einen Arzt zu sich, der gerade an einem Kaffeeautomaten stand und genervt zu ihnen herüberstapfte. Er besah sich Lawliet und sein Gesichtsausdruck veränderte sich von gelangweilt zu geschäftig. Sofort schickte er Watari aus dem Zimmer und begann auch gleich, die Nase des Schlafenden abzutupfen und eine kleine Platzwunde an seinem Hinterkopf zu desinfizieren. 

Watari saß nachdenklich auf einem der blauen Plastikstühle und beäugte grüblerisch die geschlossene Zimmertüre.Er gratulierte sich selbst zu seiner ‚täglichen guten Tat‘ und sackte dann langsam in dem billigen Sessel zusammen. Immerhin war es zwei Uhr morgens und der alte Mann war nicht mehr der Jüngste…

Ein plötzliches Schütteln seiner linken Schulter riss ihn aus seinem ungemütlichen Schlummer und er blinzelte etwas verloren ins viel zu helle Licht des Krankenhausflures. 
"Sir? Könnten Sie bitte kurz mitkommen?", fragte eine weibliche Stimme und der Erfinder erkannte die Krankenschwester von vorhin. 
"Natürlich.", murmelte er nur und stand dann etwas wackelig auf. Mit einer unguten Vorahnung folgte er der Frau ins das Krankenzimmer.

...

L's Geschichte (Death Note) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt