Kapitel 3. Einsamkeit

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(4 Jahre)

L rannte so schnell ihn seine kurzen schmächtigen Beine tragen konnten. Überglücklich raste er auf das schmiedeeiserne Tor zu und umklammerte zittrig die Stäbe mit seinen kleinen bleichen Händen. Vielleicht war heute der Tag, an dem er endlich ein eigenes zu Hause finden würde. Nervös hüpfte er von einem Fuß auf den anderen und starrte wie gebannt die Auffahrt hinunter. 

Als tatsächlich ein schwarzer Wagen mit einem lauten Quietschen vor dem Tor hielt, setzte sein Herz für einen Moment aus. Er keuchte aufgeregt, als ein lauter Ruf aus dem Gebäude die Jungen dazu aufrief, sich in einer Reihe aufzustellen. Blitzschnell lief er zurück zum Waisenhaus und stellte sich aufrecht und mit stark beschleunigtem Atem neben die anderen Kinder.

Als ein schon etwas älteres Ehepaar die Auffahrt heraufschritt, verwandelten sich seine Beine erneut in Wackelpudding und er zitterte immer noch wie verrückt. Der Junge neben ihm, ein rundlicher Siebenjähriger mit roten wilden Locken schien das zu bemerken und fixierte den aufgekratzten Lawliet mit spöttischem Blick. 
„Denkst du wirklich, die adoptieren ausgerechnet DICH, Daumenlutscher?“ L blinzelte verwirrt. Natürlich würden sie das tun! Er wünschte sich doch nichts sehnlicher als ein eigenes zu Hause und eine Familie!
„Wieso sollten sie das nicht…?“, setzte er an, wurde jedoch jäh unterbrochen, als das Ehepaar bei ihm angekommen war und ihn kurz interessiert musterte. 

„Niedlich.“, kommentierte die Frau mit einem herzlichen Lächeln, das Ls Herz schneller schlagen ließ.Der Mann zuckte nur gleichgültig die Schultern und wollte seine Frau weiterziehen, aber diese beugte sich zu L hinunter und sprach ihn direkt an. 
„Wie alt bist du denn, Kleiner?“
„Vier,…ich bin L!“, fügte er dann noch stolz hinzu. „Soso, was bedeutet das denn?“
„Das ist mein Name.“, erklärte er verlegen. 

Während L sich mit der netten Dame unterhielt, hatte Wyler deren Ehemann in ein Gespräch verwickelt und deutete zwischendurch immer wieder anklagend auf Lawliet. Plötzlich zerrte der Mann seine Frau von L weg und erzählte ihr irgendetwas von „Problemkind“ und „schwer erziehbar.“

Die beiden entfernten sich von dem Kleinkind und gingen einige Schritte weiter. Lawliet blickte dem Pärchen perplex nach und sein Verstand versuchte zu erfassen, wieso die Frau nicht mehr mit ihm, sondern mit einem anderen Kind sprach und den Schwarzhaarigen geflissentlich ignorierte.

Als das Ehepaar eine halbe Stunde später das Waisenhaus mit dem rundlichen rothaarigen Kind in den Armen verließ, kamen L die Tränen und er streckte etwas hilflos eine Hand nach den beiden Erwachsenen aus, die jedoch bereits wieder in den schwarzen Wagen stiegen, der gleich darauf außer Sichtweite fuhr. 

Enttäuschung machte sich in Ls Herzen breit und er tappte traurig zu Wyler und zupfte zögernd an ihrer Robe. Sie wandte sich überrascht um und ihr Ausdruck wandelte sich zu Ekel und Abscheu, als sie L erkannte. 
„Wa…warum sehen Sie mich so an?“, fragte er ängstlich, als ihm der missbilligende Gesichtsausdruck auffiel. 

Auf einmal packte sie ihn am Kragen seines ausgewaschenen Shirts und zog ihn etwas näher.

„Ein Kind wie du verdient es nicht, eine Familie zu haben!“, brüllte sie ihn unerwartet an. „Du widerst mich an, du hast Glück, dass wir dich durchfüttern, verdammter Bastard. Etwas so Wertloses wie du hat nicht das Recht, auf Gottes gesegneter Erde zu leben!“, fauchte sie noch und stieß in dann angeekelt von sich. 

L landete verblüfft auf dem harten Boden und die Tränen, die sich in seinen Augen gesammelt hatten strömten nun ungehindert über sein blasses Gesicht.
„Du bist erbärmlich.“, fügte sie noch laut genug hinzu, damit alle anderen es hören konnten. Die Alte stürmte davon und ließ den schluchzenden L auf dem Boden zurück.

Die übrigen Waisen versammelten sich neugierig um den am Boden kauernden Jungen und einer stupste ihn probehalber mit dem Fuß an. L kippte zur Seite und weinte einfach leise weiter. Was hatte er denn falsch gemacht? Warum hatte ihn das Pärchen nicht gewollt? Einige der Anderen kicherten amüsiert. 
„He, Ellie, hast du gehört? Schwester Wyler sagt, du bist ein Bastard.“ L schüttelte nur schwach den Kopf und rollte sich zu einer Kugel zusammen. 
„Ich wette sie hat recht damit, Schwester Wyler hat immer Recht, sie ist erwachsen!“, bemerkte ein Anderer einfallsreich.

Irgendwann schienen sie das Interesse zu verlieren und einige gingen zurück ins Haus. Lawliet blieb einfach auf dem kalten Steinboden liegen, auf dem er vor genau vier Jahren ausgesetzt worden war, und beobachtete mit trüben und verheulten Augen das Eisentor. 
„Mama…“, wimmerte er und kam sich plötzlich selbst erbärmlich vor. Er ballte die Hände zu Fäusten und bekämpfte hartnäckig die salzigen Tropfen, die immer noch seine, von der Kälte bereits roten Wangen, hinunter strömten. Er würde nicht aufgeben! Irgendwann würde er jemanden finden, der ihn mochte, und selbst wenn nicht, würde er nie seine Suche aufgeben!

Nach einige Stunden öffnete sich knarrend die alte Holztüre des Eingangs und Madigan stolperte verschlafen heraus. 
„L!“, keuchte sie erschrocken und zog das zitternde Kind an sich. Der Angesprochene war in eine Art Bewusstlosigkeit versunken und antwortete nur durch ein leichtes Frösteln und ein klägliches Fiepen. Madigan hob den Jungen hoch und trug ihn in den Schlafsaal, wo sie ihn zärtlich zudeckte und anschließend so leise wie möglich den Schlafsaal verließ. Auf dem Flur wäre sie beinahe in Schwester Wyler hineingelaufen, die sie mit misstrauisch verengten Augen beäugte. 

„Sie hätten diesen Bastard draußen lassen sollen!“
„Was?...Meinen sie L?“
„Natürlich, die anderen Kinder hatten wenigstens anständige Eltern aber dieses Kind ist…“
„Es ist unglaublich scharfsinnig, intelligent und höflich!“, argumentierte Madigan scharf. 
„So, ist er das! Nun, wenn sie ihn weiterhin so bevorzugen können sie sich eine andere Stelle suchen!“, fauchte die Alte boshaft und fixierte die Betreuerin mit ihren stechend grauen Augen. 
„Ich werde ihn nicht ausschließen, nur weil sie ihn für die Arbeit seiner Mutter verantwortlich machen!“, gab Madigan spitz zurück. 
„ARBEIT nennst du das!“, brüllte die Nonne aufgebracht und tippte Madigan empört mit einem Finger gegen die Brust. 
„Du bist hiermit gefeuert! Ich werde mir eine fähigere Erzieherin für die Kinder suchen! Ich werde nicht zulassen, dass du diese unschuldigen Wesen mit deinen verabscheuungswürdigen Ansichten vergiftest! Und jetzt pack deine Sachen, morgen Mittag verschwindest du.“ 

Mit diesen Worten wirbelte sie herum und stürmte mit schnellen Schritten davon. Madigan brauchte einen Moment um ihre momentane Situation zu erfassen, dann sank sie geschockt zu Boden und starrte das Stück Fliese vor sich durchdringend an.

„Verdammt…“, murmelte sie leise und schlich dann zurück in ihr Zimmer, um ihre Sachen zu packen und zurück nach Hause zu ziehen. Was sollte ihre Mutter denken? Diese verdammte alte konservative Schachtel Wyler! Was konnte den L dafür, dass sie ständig schlechte Laune hatte?!

Die Betreuerin wurde jäh in ihren Überlegungen unterbrochen, als eine kleine Gestalt im Türrahmen auftauchte und zögernd ins Zimmer tapste. 
„Miss Madigan, warum gehen sie weg? Ist es…ist es wegen mir?“, flüsterte er. Madigan wandte sich zu ihm um und ihre Augen weiteten sich überrascht. 
„Ach nein, L, es ist wegen Wyler. Nichts von all dem ist deine Schuld! Ich verlass mich auf dich, Kleiner. Du hältst hier die Stellung und irgendwann hol ich dich hier raus, versprochen.“ Lawliet nickte zaghaft. 
„Danke!“, rief er dann und umarmte seine Betreuerin stürmisch. Diese tätschelte ihm etwas unbeholfen den wuscheligen Kopf und drückte ihn noch kurz an sich.
„Bis bald, L.“ 

Am nächsten Morgen fuhr ein weiterer Wagen durch das schmiedeeiserne Tor und L winkte ihm betrübt nach. Und so schnell würde er Madigan nicht wieder zu Gesicht bekommen...

L's Geschichte (Death Note) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt