Kapitel 12. Zimmergenosse

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(10 Jahre)

Lawliet hatte nie wieder eines der anderen Kinder gefragt, ob er mit ihm spielen könnte. 

Mehr als zwei Jahre waren seit Ls erstem Fall vergangen und seitdem hatte er beinahe seine gesamte Freizeit vor dem Computer oder an seinem Schreibtisch verbracht und kaum noch geschlafen. Watari war zunehmend besorgt, dass Roger vielleicht recht gehabt hatte, als er den Erfinder ermahnte, es langsam angehen zu lassen, aber die Welt brauchte seinen kleinen Schützling. 

Meist nahm Watari Kontakt zur Polizei auf, wenn L einen Fall gelöst hatte, aber oft genug musste der Junge einen Tatort selbst aufsuchen und Watari hatte Angst um das Kind. Angst, das er ihm seine Kindheit erst geschenkt hatte, nur um sie ihm dann wieder zu entreißen. Angst, dass er den Jungen vielleicht in Gefahr gebracht hatte, denn der Schwarzhaarige hatte jetzt schon mehr Feinde, als gut für ihn war.

L lag auf seinem Bett und las einen Kriminalroman, obwohl er das Ende eigentlich schon erahnen konnte. Der junge Detektiv hatte sich mittlerweile einen Namen gemacht und wurde zunehmend bekannter, obwohl seine wahre Identität weiterhin ein ungelüftetes Geheimnis darstellte. Man kannte nur den ‚seltsamen Jungen‘, der sich irgendwie die Befugnis erschlichen hatte, sich an den verschiedensten Tatorten umzusehen.

Wenn er einmal einen Tatort aufsuchte, blickten ihn die Polizisten mit einer Mischung aus Abneigung, Neugier und Unglauben an, selten lag sogar etwas Interesse in ihrem Blick. SEHR selten. Schließlich wussten sie nicht, dass er der Jahrhundertdetektiv L war. Er war nur das das ‚Kind‘, vom dem keiner wusste, was es hier zu suchen hatte.

Seit einem knappen halben Jahr hatte er seine Grundausbildung abgeschlossen und sich seitdem immer mehr auf seine Fälle konzentriert, jedoch wurde es langsam langweilig. Die Verbrechen liefen immer nach einem ähnlichen Schema ab und kaum ein Fall konnte ihn länger als einen Tag beschäftigen. Aber er machte sich Sorgen, dass die Polizei ohne ihn aufgeschmissen wäre, was ja auch zunehmend der Fall war. Oft kam es dem Schwarzhaarigen so vor, als wäre er der Erwachsene und die Polizisten begriffsstutzige Kinder. Er musste ihnen alles zweimal erklären, und das war sowohl anstrengend als auch nervenaufreibend für den ungeduldigen Jungen.

Lawliet seufzte. Er besaß sogar einen eigenen Ausweis und eine Sondergenehmigung, sein Name war jedoch gefälscht worden, ebenso wie seine Adresse, die eigentlich gar nicht existierte. L Lawliet kannte so gut wie niemand richtig. Nur einen kleinen zerzausten Rotzbengel mit mehr Gehirnzellen, als gut für ihn waren und dem Decknamen Ryuzaki.

Als es an der Tür klopfte, hob L überrascht den Kopf. Wer konnte das um diese Zeit sein? Es war genau zwei Uhr morgens und außerdem war Watari seit drei Tagen im Ausland, um dort einige Formalitäten zu klären. Genaueres wusste Lawliet nicht. Als die Zimmertüre sich einen Spalt öffnete trat ein kleines zerzaustes schwarzhaariges Kind über die Schwelle in sein Zimmer. Hinter dem Fremden stand Roger. 
„L, das ist dein neuer Zimmergenosse…“ Bei dem Wort Zimmergenosse horchte Lawliet auf. „WAS? Das ist mein Zimmer!“, zischte er und warf dem Waisenhausleiter einen ungläubigen Blick zu, der in etwas bedeutete: „Das meinst du nicht ernst, oder?“

„Tut mir leid L, die anderen Zimmer sind mehr als überbelegt, und hier drin steht ein ungebrauchtes Bett.“, er nickte in Richtung des ‚leeren‘ Bettes, das voll von Akten, Kabeln, Büchern und Süßigkeiten war. 
„Das musst du wohl abräumen.“, bemerkte er mit einem Stirnrunzeln, während Lawliet ihn anstarrte, als hätte er soeben sein Todesurteil verkündet. 

„A…Aber ich…ROGER!?“ Der Mann schob jedoch nur wortlos den Jungen ins Zimmer und schloss dann die Türe, während er noch kurz an den Fremden gewandt murmelte:
„Du wirst dich bestimmt hervorragend mit ihm verstehen. Er ist nur etwas…“ er suchte nach den richtigen Worten, brach dann aber ab und verließ ohne eine weitere Äußerung  den Raum

Beide Kinder blickten ihm kurz hinterher, dann sagte der Kleinere:
„Hallo Lawliet.“ L stockte der Atem. 
„W…Woher?“ Das fremde Kind antwortete nicht, sondern senkte nur den Kopf. Seine schwarzen Haare verdeckten fast sein ganzes Gesicht und er tapste langsam auf den verblüfften L zu, der ihn immer noch etwas misstrauisch musterte. Dann hob der Fremde ruckartig den Blick und funkelte L mit tiefroten Augen spöttisch an. 
„WAH!“, kreischte der Ältere und machte einen Satz zurück an die Wand. Das gruselige Kleinkind kicherte und stupste L dann mit einem kleinen Finger an. 
„DU bist lustig!“ Ein weiteres irres Kichern. 
„Ich bin Beyond. Kannst du bitte das Bett aufräumen, ich will gerne schlafen.“

L erhob sich wie betäubt und begann wortlos, sein Zeug vom Bett zu räumen und sich dann wieder auf sein eigenes zu legen. Er beobachtete seinen neuen Zimmerkameraden, der sich sofort in den weichen Decken einrollte und dann mit seinen unnatürlichen großen Augen zu L herüberstarrte. Dem Schwarzhaarigen war das ziemlich unangenehm und er holte schließlich seinen Laptop hervor und begann, auf der Tastatur zu tippen.

Das schien Beyond Interesse zu wecken, denn er krabbelte aus seinem Bett und warf sich stürmisch in Ls, was dieser mit einem animalischen Fauchen und einem Tritt in Richtung des Kleinkinds quittierte. Dieses wich jedoch geschickt aus und ließ sich dumpf auf den Älteren fallen, worauf dieser ein Ächzen ausstieß und den Laptop geistesgegenwärtig zur Seite schob. 
„Ich bin fünf? Wie alt bist du!?“, schrie der Kleinere ihn schon fast an. Eindeutig hyperaktiv das Kind. Vielleicht ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom… Lawliet bemühte sich um genügend Luft zum Atmen und keuchte, als Beyond ihn auf dem Bett festpinnte, indem er seine Hände neben dem Kopf des Schwarzhaarigen festhielt.

„Hey, lass das! Bleib gefälligst auf deiner Seite!“, murrte der junge Detektiv ärgerlich und versuchte den Jüngeren, möglichst ohne Gewaltanwendung, von sich zu stoßen. Dieser sah ihn nur weiterhin mit diesem durchdringenden Blick an und L verstand plötzlich, wieso die Anderen es immer als unangenehm empfanden, wenn er sie auf diese Weise anstarrte. Aber seine Augen waren wenigstens nicht rot, verdammt!

Plötzlich fiel ihm auf, wie ähnlich der Kleinere ihm eigentlich sah und er hielt kurz in seinen verzweifelten Strampelversuchen inne. Abgesehen von dem offensichtlichen Altersunterschied, waren sie einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Außerdem war er kräftig, immerhin hielt er gerade einen Jungen, der doppelt so alt war wie er selbst, auf dem Bett fest. 

Dann drehte der Rotäugige sich plötzlich und beförderte so L über sich selbst. Dieser war zu überrascht um zu reagieren und wollte gerade eine Erklärung verlangen, als Rogers tiefe Stimme ihn streng anfuhr:
„Lass ihn sofort los, Lawliet!“ Der Mann musste wohl noch einmal vorbeikommen um nach dem Rechten zu sehen. 
„WAS? Aber ich…aber er…“, verteidigte L sich völlig verdattert.
„Ich will,  dass du dich augenblicklich bei ihm entschuldigst! Nur weil du dein Zimmer nicht teilen willst, musst du ihm nicht solche Angst machen! Ich hätte etwas mehr Reife von dir erwartet!“, schimpfe der Waisenhausleiter und knallte dann, ohne Lawliet die Gelegenheit auf Einspruch zu gewähren, die Zimmertüre wieder zu.

Perplex warf L einen Blick auf den Jungen unter sich, der verschlagen grinste und dann L mit einem gewaltigen Tritt aus dem eigenen Bett beförderte, bevor er seelenruhig aufstand. 
„Wie alt bist du denn nun? Warum bist du hier?“, durchlöcherte er den Älteren mit Fragen. Dieser griff nur langsam nach seinem Kissen und stürzte sich dann blitzschnell auf das Kind. 

Das Ganze endete in einer wilden Kissenschlacht, bei der L zweimal fast erstickt wäre. Schließlich lagen die beiden völlig erschöpft inmitten von Federn, zermatschten Süßkram und, zu Ls Entsetzten, auch in einigen zerrissenen Akten auf dem Boden und lachten. 
„Na schön, ich bin zehn.“, murrte der Schwarzhaarige dann und robbte anschließend wieder in sein Bett, während Beyond ihn immer noch frech angrinste. Wurde der denn nie müde?

Als er zu dem Älteren unter die Bettdecke kroch und sich an ihn schmiegte, musste dieser sich zusammenreißen, um ihn nicht mit einem gezielten Schlag aus seinem Territorium zu befördern, aber immerhin war es seine erste Nacht hier, und Lawliet wusste  ja nicht, was der Kleine durchgemacht hatte. Also beließ er es dabei, ihm nur mit finsterer Miene zu erklären, dass das eine Ausnahme sei, dann schliefen beide endlich ein.

Als Roger bei seinem Rundgang eine Stunde später die friedlich schlafenden Gestalten in dem kleinen Bett erblickte, stahl sich ein leichtes Lächeln auf sein vom Alter zerfurchtes Gesicht. Bei dem Anblick der aneinandergeschmiegten schwarzhaarigen Kinder könnte man glatt meinen, es würde sich um Brüder handeln…

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L's Geschichte (Death Note) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt