L's Geschichte (Death Note)

Kapitel 6. Ein kleines Genie

Noch immer etwas verschlafen folgte Watari der Krankenschwester in das kleine Zimmer und erstarrte, als er L erkannte, der mit zusammengekniffenen Augen auf einem blassgrün bezogenen Bett lag und fast vollständig von Bandagen und Pflastern aller Größen und Formen bedeckt war. Irgendjemand hatte ihn in ein viel zu großes Krankenhaushemd gesteckt und an seinen bloßen Armen und Beinen zeichneten sich zahllose Schrammen, Narben und blaue Flecken ab.

Der Doktor kam mit ernster Miene auf den Erfinder zu und lenkte ihn in Richtung eines kleinen Tisches mit zwei Holzstühlen in der Ecke des beengten Raumes. 
"Ich bin Doktor Eraldo Cooper. Sind Sie der Erziehungsberechtigte des Kindes?", fragte er mit misstrauisch verengten Augen. 
"Seit gestern Nachmittag, ja. Ich habe ihn in einem nahe gelegenen Waisenhaus gesehen und ihn mitgenommen." 
Der Arzt, ein offenbar alles andere als leichtgläubiger Zeitgenosse, verlangte die Adoptionsurkunde des Jungen und einen Ausweis. Watari legte alle benötigten Dokumente vor und der Doktor entspannte sich, sichtlich erleichtert.

"Wie geht es ihm?", erkundigte der Erfinder sich nach kurzem Schweigen. 
"Nun, ich kann Ihnen ausschließlich über seine körperliche Verfassung Genaueres erzählen…", erklärte Cooper ruhig. "Abgesehen von einigen blauen Flecken und einer angeknacksten Nase und Rippe ist er gesund. Offenbar hat man ihn über einen längeren Zeitraum alles andere als gut behandelt, Unterernährung und Schlafmangel machen seinem Immunsystem noch zusätzlich zu schaffen. Keine inneren Blutungen, soweit ich das feststellen konnte. Es ist wirklich ein Segen, dass Sie ihn rechtzeitig gefunden haben. Über seinen psychischen Zustand kann ich Sie leider nicht informieren, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es sehr schwer für ihn sein wird, sich wieder ins soziale Leben einzugliedern. Panikattacken oder ein Trauma kann ich nicht ausschließen." 

Watari nickte nur wie betäubt. Langsam stand er auf und bedankte sich bei dem Arzt, der anbot, L sobald wie möglich einen Psychologen zuzuteilen. Der alte Engländer setzte sich neben L auf die Bettkante und begutachtete das geschwollene Gesicht des Kindes. Wenig später öffnete sich die Zimmertüre erneut und eine besorgt aussehende ältere Frau mit schulterlangen dunklen Haaren und haselnussbraunen Augen trat in den kahlen Raum. In ihren Armen trug sie eine kleine Kiste mit allerlei Puzzeln und einigen Zetteln.

"Ich bin Frau Doktor Leaflet. Sind Sie der Vormund des Jungen? Wie heißt er denn?", erkundigte sie sich. Watari wunderte sich etwas über den seltsamen Nachnamen, dachte aber nicht weiter darüber nach. Bestätigend nickte er und erhob sich, um der Psychologin die Hand zu schütteln. 
"Sein Name ist L Lawliet."
"Ist L eine Abkürzung für…"
"Fragen Sie ihn das bitte nicht. Das letzte Mal hat er geantwortet es steht für Loser oder lächerlich. Ich habe keine Ahnung wie ich ihm begreiflich machen soll, dass er nicht so wertlos ist, wie man es ihm die ersten Jahre seines Lebens eingebläut hat.", erklärte er verzweifelt und sein Blick huschte kurz zu dem immer noch friedlich schlafenden Jungen auf dem Krankenhausbett. 

Leaflet versprach, sich darum zu kümmern und scheuchte den Erfinder dann etwas grob aus dem Zimmer. Wieder vergingen Stunden, bis die Tür sich schließlich öffnete und Watari benötigte mehr als nur eine Tasse starken Kaffee, um sich wachzuhalten.

Leaflet kam mit schnellen Schritten auf ihn zu und lächelte dann etwas zittrig. 
"Sir, ihr Sohn ist vielleicht verstört und fühlt sich aufgrund seiner Vergangenheit wertlos…" Das Grinsen mit dem sie das sagte verstörte Watari und die Psychologin schien das sehr wohl zu bemerken. Schnell sprach sie weiter:
"…aber ich habe ihn einem Intelligenztest  unterzogen, und sein IQ liegt weit über dem Durchschnitt. Und er kann auf dem Niveau eines Oberstufenschülers lesen!"
"Er kann…aber woher?!" 
Die Dunkelhaarige erzählte ihm eine Kurzfassung dessen, was L ihr über Madigan berichtet hatte.
"Das ist unglaublich! Seine geistigen Fähigkeiten sind außergewöhnlich!", wiederholte sie immer wieder aufgeregt und Watari konnte vor Verblüffung nicht einmal einen geraden Satz herausbringen.

Genau das war der Sinn seines Ausflugs gewesen. Einige begabte Kinder zu finden und zu fördern, um sie ihre sonst so unnötig verschwendeten Potentiale zu ihrem Besten nutzten zu lassen! Er konnte sein Glück kaum fassen! Jetzt musste er den jungen Schwarzhaarigen nur noch davon überzeugen, dass er ein wertvolles Individuum war und sein Selbstvertrauen erneuern, dann hätte er ein weiteres kleines Genie zu seiner freien Verfügung. Watari würde ihn zu einem der klügsten Kinder ausbilden, das diese Welt jemals gesehen hatte!

In seiner Euphorie rauschte er zurück in Ls Zimmer. Dieser saß sichtlich ausgelaugt auf seinem Bett und hielt einen bunten Würfel in den totenbleichen Händen. Watari trat langsam und möglichst leise näher und beobachtete den Jungen dabei, wie er mit atemberaubender Geschwindigkeit das Objekt in seinen Armen drehte und schließlich jede Seite des Würfels jeweils nur eine Farbe zeigte. 

Verblüfft und fasziniert zugleich musterte er das Kind. Dieses wirbelte plötzlich mit weit aufgerissene Augen zu ihm herum. Der Würfel entglitt seinem Griff und fiel scheppernd zu Boden.
"Tut mir leid. Ich wollte ihn nicht fertigmachen!" Schnell krabbelte der Junge aus dem Bett und kramte den Würfel unter dem hässlichen Möbelstück hervor. Sofort verdrehte er das soeben fertiggestellte Spielzeug wieder und legte es blitzschnell in die sich neben dem Bett befindliche Kiste zurück. Mit angsterfüllten Augen starrte er Watari an und schluckte schwer. Wataris Brust wurde eng und sein Herz schwer, als er den erschütterten Gesichtsausdruck des Jungen bemerkte.

"Wieso hast du das gemacht? Der Würfel war doch richtig so.", bemerkte der alte Mann verwirrt. L blinzelte. 
"Ich darf die Spielsachen der Älteren nicht anfassen.", murmelte er nur tonlos und hievte sich zurück ins Bett. Dort grub er die zierlichen Hände in das hässliche grüne Bettlacken und umklammerte es schlotternd. Watari atmete tief ein. Das würde schwerer werden als gedacht…

----