Kapitel 1

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Es fing an zu regnen, als ich die letzte Kiste in den Flur gestellt hatte. Dicke Tropfen klatschten gegen das Fenster und die Leute auf der Straße liefen schnell durcheinander, in der Hoffnung einen Unterstellplatz zu finden. Erschöpft setzte ich mich auf einen Karton und strich mir die Haare aus der Stirn. Mein Dad kam gerade aus dem Bad und lächelte mich leicht an. Doch ich lächelte schon lange nicht mehr zurück. Erstens, weil ich viel zu wütend war um ihm mein Lachen zu schenken und zum anderen, weil es für mich keinen Grund gibt zu lachen. Früher hab ich viel gelächelt, da hatte ich ja auch noch eine Kindheit. Damals, als alles noch so viel besser war als heute. Als ich noch eine richtige Familie hatte. Aber was tat ich da? Ich dachte schon wieder zu viel über die Vergangenheit nach und vergesse dabei mal wieder, dass ich in der Gegenwart lebe. Ich werde nie wieder eine richtige Familie haben. Nie wieder.  Denn dafür ist zu viel passiert. Und eine Familie besteht aus einer Mutter, einem Vater und einem Kind. Und bei mir war das nicht so. Ich vermisse sie. Jede Sekunde, jede Minute, jeden Tag. Ich weiß nicht, wie das alles weitergehen soll. Die letzten Monate sind an mir vorbei gegangen als ob ich schlafe. Bei der Beerdigung war ich nicht. Nicht, weil ich sie nicht liebe, nein. Nur ich konnte einfach nicht. Ich konnte einfach nicht den Sarg sehen, den Rest von meiner Familie und meinen Dad, der wieder geweint hätte. Ich habe meine Eltern, also eigentlich meinen Dad nur ein einziges Mal weinen sehen. An dem Tag, an dem meine Mutter starb. Eine Gänsehaut überkam mich und ich schüttelte den Kopf. Den Tag wollte ich vergessen, redete ich mir ein. Ruckartig stand ich auf und ging in die noch leere Küche. Nur ein Herd und ein kleiner Plastiktisch stand da drin. Das ganze Haus einzurichten dauert ewig.
„Dad?“, rief ich genervt.

„Was denn Maus?“

„Nenn mich nicht Maus.“, fauchte ich. „Wo ist mein Zimmer?“

Mein Dad kam in die Küche und sah mich an. Ich erkannte in seinen Augen, dass er nicht wollte das ich schon hoch ging.
„Wo ist es?“; fragte ich noch einmal.

„Treppe hoch, dann bis zum Ende des Flurs die weiße Tür.“, erklärte er und sah mir nach als ich schon fast nach oben sprintete. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich die Tür aufstieß und mein Zimmer sah.  Es war blau. Himmelbau, mit weißen Gardinen an den Fenstern mir gegenüber. Ein weißer Schreibtisch stand vor den Fenstern und daneben ein großes Bett, das wirklich gemütlich aussah. Ich erkannte rechts von mir ein blaues Sofa mit einem Fernseher, links stand ein großer Schrank und ein Schminktisch. Es war komplett fertig, obwohl ich das nicht gedacht hätte.

Ich war nicht scharf darauf, hier zu sein. Klar, London ist bestimmt eine mega geile Stadt, aber es ist eben nicht das gleiche wie mein alter Ort. Mein Dad ist mit mir umgezogen, ganz plötzlich. Der Tod meiner Mum ist 3 ½ Monate her und auf einmal sagte mein Vater mir vor 2 Monaten das wir umziehen. Zuerst schob ich es drauf, dass ihn zu Hause alles zu stark an meine Mutter erinnerte. Doch dann fiel mir letztens erst ein, dass mein Dad kurz vorher einen Brief bekam.

Was, wenn er deswegen umgezogen ist? Ich hatte keine Ahnung und im ersten Moment war es mit auch egal. Mittlerweile beschäftigte es mich mehr, zumal ich noch nicht mal Kontakt zu meinen alten Freunden haben darf. Mein Dad ist einfach krass vorsichtig geworden und ich weiß nicht wieso. Aber was soll ich machen? Auf mein Flehen in der alten Stadt zu bleiben, reagierte mein Vater ja auch nicht. Da sollte er sich auch nicht wundern, wenn ich etwas kühler wurde. Müde legte ich mich auf das Bett und schlief sofort ein. Die Gedanken, die mich sonst immer quälten, habe ich ausnahmsweise mal vergessen.

 

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