Kapitel 2 - Amy's Sicht -

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Als ich die Treppen zu unserem Haus hinaufstieg, zerzauste der Wind mir meine Locken. Ärgerlich strich ich sie zurück in ihre ursprüngliche Position und suchte in meinem Rucksack nach dem Schlüssel. Als ich ihn endlich fand, schloss ich die Eichentür auf und betrat den kleinen Flur. Links von mir führte eine Treppe in die oberen Stockwerke. Rechts vor mir war meine „Wohnungstür“.

Natürlich war die Treppe nur Tarnung. Man sah sie, aber betreten konnte man sie nicht. Und oben gab es auch keine weiteren Wohnungen. Die einzige Wohnung in diesem Haus war die, in der ich wohnte. Wohnen tat ich da zwar nicht wirklich (das war nur Tarnung für meine Freunde, wenn die zu Besuch kamen) aber sie war eingerichtet, als ob ich dort wirklich schon immer wohnen würde. Natürlich gab es unten noch zwei weitere Türen. Eine sollte für den Keller sein (den es auch nicht gab), und die andere auch eine Wohnung. Doch ich wusste, dass hinter dieser Tür keine Wohnung war. Dahinter war das Institut von London. Es war tausende von Jahren alt und dies bedeutete, dass das Haus auch schon tausende von Jahren alt war. Aber man sah es nicht, denn meine Großeltern haben es geschafft, es zu restaurieren.

Ich betrat das Institut und hängte meine Jacke an die Garderobe. Dann ging ich zum Fahrstuhl, drückte OG (Obergeschoss) und fuhr hoch. In meinem Zimmer zog ich die Schuluniform aus. Ich schlüpfte in eine Jeans und meine Lieblingsstrickjacke und betrat dann den großen Essenssaal mit dem langen Eichentisch und den vielen Stühlen. Meine Mama rührte hektisch in einem Topf herum und wischte sich den Schweiß von ihrer Stirn. Ich kam näher und öffnete das Fenster, denn in dem Raum war es ziemlich stickig.

„Machst du mir mal bitte einen Zopf? Die Haare stören.“, sagte meine Mama und hielt mir ein Haargummi hin. Ich nahm ihre dicken Haare und machte ihr einen Dutt. Ich hatte ihre Locken. Aber eigentlich hatte ich alles von ihr…ihre braunen Augen, ihren Körper und auch ihre leicht schnippische Art.

„Was gibt es?“, fragte ich mit einem Kopfnicken zu dem Topf.

„Gemüsesuppe. Dein lieber Bruder ist mal wieder draußen unterwegs…das heißt heute essen wir nur zu dritt.“

Ich seufzte. Mein Bruder war so gut wie immer unterwegs. Da hörte ich Schritte. Dad war da. Ich setzte  mich schon mal an meinen Platz und wartete darauf, dass meine Mama mir Suppe ein tat.

„Hallo Liebling.“, sagte mein Dad und küsste meine Mutter kurz. Dann kam er zu mir und ließ sich dann auf seinem Stuhl nieder. Während wir alle aßen, sagte keiner ein Wort.

„Wo ist eigentlich Maria, kocht die nicht sonst immer?“, fragte ich erstaunt.

„Die ist krank.“, erklärte Dad.

Wieder Stille. Schließlich sagte meine Mama: „Wie war Schule?“

Und in dem Moment fiel es mir ein! Schule. Ich wollte es ihnen doch sofort erzählen, ich sollte es ihnen sofort sagen, falls sie da war. Und sie war da! Heute das erste Mal. Sie stand schüchtern im Türrahmen, während alle anders beschäftigt waren. Alle außer ich. Ich habe sie nicht aus den Augen gelassen, genauso wie es mir gesagt wurde. Als sie den Weg zur Cafeteria einschlug, ging ich ihr in einiger Entfernung hinterher. Ich musste schlucken, als ich sie zum ersten Mal sah. Sie war noch schöner, als mir gesagt wurde! Ihre goldblonden Haare, die so schön lang waren – bis unter die Brust. Ihr Körper, der so schlank und zierlich war, dass ich mir nicht vorstellen könnte, dass sie jemals ein Training absolviert hat. Ihre blaugrünen Augen mit den unvorstellbaren langen Wimpern und ihr schmales Gesicht, das sich den ganzen Tag kein einziges Mal zu einem Lächeln verzog. In der Cafeteria wirkte sie schon fast verloren unter den ganzen Schülern. Man merkte, dass sie sich nicht wohl fühlte. Sie schämte sich, dass sie keine Schuluniform anhatte. Und natürlich mussten Selena und Anna ihren Senf dazugeben. Ich habe sie natürlich verteidigt! Immerhin sollte ich mich um sie kümmern, daher tat ich das auch. Außerdem würden mir meine Eltern den Kopf abreißen, wenn ihr auch nur ein Haar gekrümmt werden würde.

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