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Die Bibliothek

BIANCA BISS SICH auf die Unterlippe und schlug ihr Bein über das andere

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BIANCA BISS SICH auf die Unterlippe und schlug ihr Bein über das andere. Das Buch auf ihrem Schoß war gefühlt dreihundert Jahre alt und wog mehr als ihre Katze. Die Seiten waren dünner als Blattgold, aber blitzblank und weiß. Sie rochen wie frisch gedruckt, was auf Dauer in ihrer Nase stach. Anscheinend hatte es noch keine Menschenseele gelesen. Vielleicht war gerade das der Grund, warum sie es heute morgen aus einem der deckenhohen Regale gezogen und ihm eine Chance gegeben hatte. Irgendjemand musste es endlich lesen.

"Hey, du", rief ein Typ und nickte einem anderen zu, der die Bibliothek betrat. Bianca blinzelte und verlor die Zeile, in der sie gerade gewesen war. "Hast du ein Feuerzeug?" Der Angesprochene schloss die Tür leise, wie es in einem Lesesaal üblich war. Er drehte sich in aller Ruhe zum anderen um.

"Ein Feuerzeug?", flüsterte er. Bianca starrte die Buchstaben an, aber sie waren nicht laut genug in ihrem Kopf. Das Gespräch übertönte die Geschichte auf dem Papier. "Nein, habe ich nicht." Er schlenderte auf ein Regal zu und sah sich die Bücher an. Der andere schnalzte mit der Zunge.

"Das gibt es ja nicht", ärgerte er sich und schüttelte den Kopf. Bianca ertappte sich dabei, wie sie aufsah und die Szene vor sich beobachtete. Eilig fokussierte sie den Text und tat so, als würde sie nicht zuhören. Fake it till you make it. "Jetzt frage ich zum fünften Mal jemanden. Warum hat keiner ein Feuerzeug?" Er hatte einen Hut auf, in der eine Feder steckte. Seufzend richtete er sich die Kopfbedeckung zurecht.

"Wozu brauchst du das denn überhaupt?", fragte eine Frau, die in der Nähe stand und ein paar Bücher einräumte. Sie legte den Kopf schief. "Möchtest du eine Kerze anzünden?"

"Nein, ich möchte keine Kerze anzünden", antwortete er und beäugte die Frau skeptisch. "Hab ich dich überhaupt schon gefragt?" Bianca zupfte Fussel von ihrer Hose.

"Ja, aber du brauchst nicht nochmal fragen. Habe inzwischen noch immer keines", sagte sie und kramte in der Kiste nach weiteren Büchern. Er hob die Augenbrauen an.

"Wirklich? Weiß ich gar nicht mehr", überlegte er und nahm den Hut von seinem Kopf. Er wirkte ratlos. "Ich brauch ein Feuer. Ich will rauchen."

"Was? Rauchen? In einer Bibliothek?", wollte die Frau entsetzt wissen. Sie ließ das Buch fallen. Ihre hohe Stimme bohrte sich in Biancas Kopf hinein und ließ sie die Zähne knirschen.

"Hier bitte", sagte der andere Typ, der den Lesesaal vor Kurzem erst betreten hatte. Er streckte dem Mann eine Schachtel Streichhölzer entgegen. 

"Aha", entgegnete der Mann und nahm die Packung entgegen. Er räusperte sich. "Ein Feuerzeug hat also niemand, aber Streichhölzer schon. Aha." Stammelnd schob er die Schachtel auf und fischte sich eines hinaus. Sogar die Frau hatte innegehalten und den Typen angestarrt. Sie schüttelte den Kopf und fasste sich wieder.

"Ja, aber", fing sie an und fuchtelte mit dem Buch in ihren Händen herum, "aber du kannst hier doch nicht einfach rauchen. Das ist eine Bibliothek." Zum Ende ihrer Worte hin wurde sie leiser, bis sie im Flüsterton sprach. Als wäre ihr plötzlich wieder eingefallen, dass hier lautes Sprechen nicht erwünscht war. Bianca schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen.

"Wer sagt denn, dass ich in der Bibliothek rauche?", fragte er verwirrt.

"Du hast das gerade eben gesagt", behauptete die Frau mit empörter Miene und stellte ein schweres Buch in ein höher liegendes Regal. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich bei ihren Worten, sodass sie gerade noch herankam. 

In Bianca brodelte es. Wenn sie in die Bibliothek ging, wollte sie in Ruhe lesen. Nicht anderen beim Quasseln zuhören. Die Leute redeten und redeten. Das Gespräch schien kein Ende zu nehmen. Ähnlich wie im Buch. Sie war im letzten Drittel angelangt und wollte sich nicht weiter aus dem Fluss bringen lassen. Sie atmete tief durch. Sie steckte ihre Nase tiefer in das Buch und versuchte verkrampft, die Außenwelt auszublenden.

"Nein, habe ich nicht", sagte er und kramte hektischer in der Box. Der Typ wartete geduldig, bis er fertig war und sie wiederbekam. "Ich habe nur gesagt, dass ich rauchen will und nicht, dass ich hier rauchen will." Er bekam ein Streichholz zu fassen und steckte es gemeinsam mit seinem Zeigefinger in die Höhe, um seine Worte zu betonen.

"Aber wo willst du dann rauchen?", fragte die Frau und legte den Kopf schief, als verstünde sie die Welt nicht mehr.

"Naja, draußen, vor dem Gebäude. Suche jetzt schon seit einer halben Stunde nach einem verdammten Feuerzeug. Aber in diesem Örtchen sind die Straßen menschenleer, deswegen dachte ich, schau ich mal in die Bibliothek hier rein." Er zuckte mit den Schultern und zündete im selben Moment das Streichholz. Aus seiner Tasche holte er eine Zigarette heraus.

"Aber", fragte sie wieder und zog ihre Augenbrauen zusammen, "was machst du da denn sonst gerade?" Sie zeigte in einer ausschweifenden Bewegung auf seine Hände, die wie von selbst seine Zigarette anzündeten. Bianca schnupperte an der Luft.

"Naja", deutete er an und nahm einen Zug. "Ich kann ja nicht einfach rausgehen und seine Streichhölzer mitnehmen. Wäre ja irgendwie komisch. Ich dachte mir, ich zünde die schnell an und dann gehe ich gleich wieder. Wird ja kein Problem sein." Je mehr Zeit verging desto mehr brodelte es in Bianca.

"Achso", sagte die Frau. Auf ihre Bücher schien sie vergessen zu haben. "Wenn das so ist, dann ist es in Ordnung." Sie rieb sich das Kinn. Er nickte zustimmend und richtete sich den Hut. Der andere sah stumm und geduldig zu, wie er die Box in den Händen hielt und das benutzte Streichholz zurücklegte.

Stille legte sich über den Lesesaal. Es war genau so, wie es sein sollte. Bianca sandte Gebete an den Gott, an den sie nie geglaubt hatte und blätterte weiter. Zeile um Zeile verschlang sie, bis ihre Augen hungrig die Seite entlangscrollten. Sie kam sich vor wie eine Maschine. All ihre Vorurteile gegenüber ungelesenen und ungewollten Büchern verflogen in der Luft. So ungewollt wie manch einer, konnte dieses Werk gar nicht sein.

"Sag mal, wieso legst du alle benutzten Streichhölzer wieder zurück in die Box, da kennt man sich ja nicht mehr aus. Wenn man da so einen Blick hineinmacht, findet man nicht mal ein frisches Hölzchen, ich sag es dir", platzte der Mann mit dem Hut in die Stille hinein.

Er entzweite die angenehme Ruhe derart unsensibel, dass es Bianca wie ein Messerstich in den Rücken vorkam. Der kühle Zorn brach in ihr unkontrolliert durch. Der mühsam hinuntergeschluckte Ärger kam ihr umso stärker wieder hoch und legte sich um ihren Hals. Er drückte zu und ließ ihr Gesicht rot anlaufen. Voller Wut las sie die letzte Zeile zu Ende und griff nach der Seite, um zu blättern. Sie war blind. Blind vor Zorn. Sie sah nicht, was sie tat. Sie dachte nicht mehr nach. Die Emotionen drängten ihre Vernunft weg. Ihre groben Hände fassten nach dem hauchdünnen Papier und blätterten.

Voller Schwung.

Voller Schwung

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