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❝Der bunte Wasserfall❞

ZWISCHEN BIANCAS UND Sams Blicken vergingen Ewigkeiten und es lagen unendlich viele Worte in ihnen

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ZWISCHEN BIANCAS UND Sams Blicken vergingen Ewigkeiten und es lagen unendlich viele Worte in ihnen. Seine Miene verdunkelte sich, als er den wahren Grund für ihre Frustration erkannte. Er sah durch ihre Fassade aus Wut hindurch, die so quellklar wie Glas war. Wärme erweichte seine Züge und versuchte ihr still Trost zu spenden, doch sie ließ nichts davon zu sich dringen. Sie zog ihre Nase hoch und hob den Kopf an, damit sie mithilfe ihres gestellten Stolzes zumindest von Liz und Finley Ruhe hatte. 

"Weiter jetzt. Weniger Reden, mehr rennen", forderte Bianca. Sie wandte sich dem Wasserfall zu, der langsam näherkam und spürte, wie Sam mit seinen Blicken Löcher in ihren Nacken bohrte. Er wollte keinen Weg aus dieser Welt finden, sondern hatte tausend andere Gründe im Sinn, weswegen er mit ihr sprechen musste. Dem war sie sich bewusst. Genau deshalb durfte er nicht zu Wort kommen. Dafür war keine Zeit und die würde es vermutlich auch nie geben.

Bianca entwand sich ihrem Gedankenstrom, unter dem sie dank Sam stand und blickte über die Schulter. Ein Beißen in der Magengrube ließ sie wünschen, sie hätte es bleiben lassen. Hinter ihnen war nichts Gutes zu sehen. Die Apokalypse streckte ihre dürren Finger nach ihnen aus. Der Riss hatte den gesamten Wald mit seiner tödlichen Krankheit infiziert, die jede Pflanze und jedes Wesen in die kleinsten Bestandteile zerlegte. Diese Welt löste sich in schwarze Fäden auf, die so dicht aneinander gedrängt wurden, dass sie sich aus Platzmangel der Mitte nähern mussten. Der Kessel schrumpfte.

Mit weit aufgerissenen Augen richtete sie ihren Blick nach vorne. Ihr Hals fühlte sich starr an, als könnte sie ihren Kopf kein weiteres Mal nach hinten drehen. Wollte sie auch nicht. Sie schluckte den Kloß herunter und verbannte die Gewissheit, dass diese Welt dem Untergang geweiht war. Allein sie hatte eine winzige Chance, aus dem Schlamassel herauszukommen, doch die anderen würde sie zurücklassen müssen.

Das warme Rauschen des Wasserfalls rückte in den Vordergrund und linderte ihre Kopfschmerzen. Kurz bevor ihr ein Seufzen entweichen wollte, stellten ihre Augen scharf und starrten das fließende Wasser verwundert an. Als sie an Tempo verlor und zurückfiel, drehte sich Sam zu ihr um und folgte ihrem Blick. Bunte Tupfer lösten sich aus der Dampfwolke, die den Papierhimmel im Zentrum der Welt verhüllte. Es floss definitiv kein normales Wasser von dort oben hinab. Abgesehen von der Farbe waren die Tropfen viel zu groß.

In Bianca mischten sich Neugierde und Angst zu Ungeduld, die sie nach vorne stürzen ließ. "Komm", murmelte sie und griff im Vorbeilaufen nach Sams Arm. Sie legte noch einen Zahn zu, doch ihren Blick widmete sie nichts anderem als dem eigenartigen Wasserfall. Plötzlich blieb etwas an ihrem Fuß hängen, was sie abbremsen ließ. Sie schnappte nach Luft und griff wie ferngesteuert nach ihrem Bein.

"Geht es dir gut?", fragte Sam und hockte sich neben sie. "Was ist das?" Er klang mindestens so verwirrt wie sie sich fühlte, als ihre Hände den Gegenstand aufhoben, der sie fast zu Sturz gebracht hatte. Ein Buch, das in einen blauen Einband gekleidet war. Sie zog die Augenbrauen zusammen und blätterte es durch.

"Schau mal, dort sind noch mehr", stellte Sam fest und zeigte nach vorne. Er drückte sich vom Boden weg und lief zielgerichtet nach vorne. Bianca ließ das Buch aus ihren Händen gleiten und folgte ihm. Ihre Gedanken verfingen sich zu einem Knoten und sie wurde noch vorsichtiger, damit ihre Unachtsamkeit sie nicht wieder über etwas stolpern ließ. Ein Donnergrollen ertönte und sie zuckte zusammen. Keinesfalls durfte sie hinter sich schauen.

"Wie kommen denn die vielen Bücher hierher?", wunderte sich Liz. Sie war weiter vorausgerannt und verunsichert stehengeblieben, als niemand ihr folgte. Mit ihren schmalen Händen hob sie einige Romane auf, die im Gras herumlagen.

"Es werden immer mehr, je näher wir dem Wasserfall kommen", stellte Bianca fest und sammelte auf dem Weg eine Handvoll Bücher auf. Sie ergriff eines mit gelbem Stoffeinband und überflog einige Kapitel. Als sie über die gelben Seiten strich, erkannte sie viele Makel. Risse und Knicke zierten sie. Eines mit schlichterem Umschlag fiel ihr ins Auge, da es besonders stumpfe Ecken besaß. Sie nahm es in die Hände und untersuchte es nach weiteren Schäden. Als sie es aufschlug, fielen derart viele Zettel heraus, dass es ihr aus den Fingern glitt.

"Also auf Lesen hab ich jetzt keine Lust", gab Finley zu und ließ ein dünnes Büchlein sinken, für das er sich einen Moment lang interessiert hatte. Ein Baum knarrte in der Ferne und ließ den Boden erzittern. Sams Blick folgte dem Ursprung des Geräusches und als er ihn entdeckt hatte, glich sein Gesichtsausdruck dem eines geschlagenen Hundes. Bianca biss die Zähne zusammen und rannte auf ihn zu.

"Nicht hinsehen", knurrte Bianca und wollte ihn in die entgegengesetzte Richtung drehen, doch er rührte sich nicht. "Nicht. Hinsehen." Bei ihrem scharfen Ton löste er sich und ließ sich mitschleifen. Finley und Liz warteten nicht, sondern rannten auf der Stelle los.

Mit dem Gewittergrollen des Weltuntergangs im Nacken liefen sie dem Wasserfall entgegen. Je näher sie kamen desto verwirrender gestaltete sich der Eindruck, den er auf sie machte. Es war als rücke er in die Ferne, obwohl ihre Hände bald in sein seltsam buntes Wasser eintauchen konnten. Er floss immer langsamer, bis er sich wie in Zeitlupe zu bewegen schien. Die Tropfen pulsierten und vergrößerten sich mit jedem von Biancas Schritten. Das Gras zu ihren Füßen konnte sie kaum mehr erkennen, da Bücher in allen Formen und Arten es bedeckten. Bald begannen sie sich zu stapeln, weswegen sie nur noch langsam vorankamen.

"Seht!", rief Liz und schlängelte sich wie ein Wurm durch das Büchergewusel hindurch. Sie waren angekommen. Sie standen am Fuße des Wasserfalls. Bianca hob ihren Kopf und blickte in den Himmel hinauf, der in Nebel getaucht der Unendlichkeit entgegenlächelte. Das Rauschen dröhnte in ihren Ohren und ließ den Riss für einen kurzen Augenblick wie einen Zwerg erscheinen. Der in die Tiefe stürzende Fluss breitete seine bunten Arme aus und ließ es dicke Tropfen regnen.

"Was zur Hölle?", entfuhr es Bianca, als ihr Blick Sam fand, der Liz zu folgen versuchte. Er versank bis zu den Knien in Büchern. Jedes Werk, das er in die Finger bekam, stieß er zur Seite. Wenige Meter fehlten, bis er vor dem Wasserfall zu stehen kommen würde, doch er kam nur langsam voran.

"Bin ich blöd oder ist das hier sowas wie ein See?", fragte Finley, der Liz' und Sams Beispiel folgte und sich weiter in den Büchersumpf begab. Er warf sich hinein und räumte mit unbeholfenen Schwimmbewegungen die Schriftstücke aus dem Weg, um mit deren Hilfe nach vorne befördert zu werden.

Bianca schüttelte den Kopf und blieb wie angewurzelt stehen. Es war verrückt. Sie ergriff eines der Bücher und rubbelte am Einband, während ihr Kopf vom angestrengten Überlegen fast durchbrannte. Aus einem Impuls heraus warf sie es dem bunten Fluss entgegen. Die innere Anspannung konnte sie damit nicht loswerden, doch ihr Blick folgte dem durch die Luft fliegenden Werk, als würde es noch weiter fliegen, wenn sie es böse genug anstarrte. Es fiel mit einem Zischen in den Wasserfall hinein. Dieser spuckte es keine Sekunde später wieder aus und schleuderte es in ihre Richtung. Bianca riss die Augen auf und duckte sich, damit der Gegenstand mit den spitzen Ecken sie nicht traf. Erst als sie sich erneut nach vorne wandte, fiel es ihr auf. Da war überhaupt kein Wasser, das vom Himmel fiel. Das waren allesamt Bücher. Es regnete Bücher.

 Es regnete Bücher

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