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Schwarze Blitze❞

DER RISS DURCHFUHR den weißen Himmel und trübte ihn mit seiner tiefschwarzen Farbe

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DER RISS DURCHFUHR den weißen Himmel und trübte ihn mit seiner tiefschwarzen Farbe. Seine Zacken drückten sich durch die Papierfläche, die Bianca hilflos beobachtete. Der Spalt zog sich wie eine Raupe zusammen und quoll zu einem fetten Fleck auf. Der Klecks wuchs immer mehr, nährte sich aus der Furcht, die Liz zurücktaumeln ließ und schien sich in Sams rasende Gedanken zu fressen. Finley hob seinen Hut auf und legte den Arm schützend um ihn. Die trockene Luft legte sich würgend um Biancas Hals.

Plötzlich tropfte der Riss wie ein schwarzer Blitz vom Himmel und traf einen Baum. Er spaltete seine Inneres senkrecht in zwei Teile, nur um im nächsten Moment wieder  hinaufzuspringen. Wie ein Jojo katapultierte er sich zurück in die Papierfläche über ihren Köpfen, wo er sich zu einem schwarzen Klumpen formte und lauernd auf die Welt hinabblickte. Liz schrie auf und machte Anstalten, in die nächstbeste Richtung zu rennen, doch Finley hielt sie im letzten Moment davon ab. Sams Blick schwenkte sich drängend zu Bianca. Sie riss mit geballten Fäusten die Augen auf.

Der Spalt hüpfte ein weiteres Mal vom Himmel hinab und entzweite einen schiefe Papierkiefer, die am Rand der kesselförmigen Welt stand. Ein Schlund tat sich auf und verschluckte den traurigen alten Baum. Bianca drehte ihren Kopf hektisch umher, als ein Beben ihr fast den Boden unter den Füßen wegriss. Die Landschaft besaß genau wie die vergangene Welt Papierwände, die als Grenzmauern zum großen Nichts fungierten. Doch dieser Ort war wesentlich kleiner als es der letzte zu Anfang gewesen war, bevor er zu schrumpfen begonnen hatte. Mit dem bloßen Auge konnte sie das gewölbte Papier sehen, das den Kessel bildete. Bäume wuchsen nur direkt an den Rändern. Je weiter sie zur Mitte sah desto weniger Fauna und Flora entdeckte sie. 

Den Mittelpunkt stellte der Wasserfall dar, dessen Dampf die Luft trübte. Bianca kniff ihre Augen zusammen, in der Hoffnung, durch den Nebel blicken zu können. Etwas an dem Bild irritierte sie. Die Flüssigkeit schimmerte in allen möglichen Farben und die Tropfen sahen aus der Weite ungewöhnlich grob aus. Noch dazu konnte sie sich nicht erklären, wo der Ursprung lag. Ihr Blick wanderte zum verschleierten Himmel inmitten der Dampfwolke. Ihre Pupillen weiteten sich. War dort etwa eine Öffnung? Eine Öffnung, die aus der Welt führte?

"Kommt", rief Bianca und griff nach Sams Hand. "Zum Wasserfall." Ohne auf seine Reaktion zu warten oder sich nach Liz und Finley umzusehen, schoss sie fest entschlossen auf den Mittelpunkt dieser Welt zu. Das hellgrüne Papiergras knickte ein, als sie es niedertrampelte. Der Boden erzitterte unter den zerstörerischen Blitzen des Risses. Ein Grollen nach dem anderen durchdrang die Luft und brachte ihre Zähne zum Knirschen.

"Warum?", hörte sie Sams Stimme durch das Gewitter hindurchdringen. "Bauchgefühl?" Ohne ihr Tempo zu drosseln, drehte sie ihren Kopf zurück, um ihn ermutigend anzulächeln. Doch als ihr Blick den Himmel über dem Rand der Welt traf, erkaltete ihr Gesichtsausdruck. 

In Abständen von wenigen Millisekunden sprang der schwarze Blitz von einem Baum zum anderen. Der Riss vervielfachte seine Macht mit jedem verfließenden Moment. Er fokussierte die hochgewachsenen Pfanzen und durchtrennte sie wie ein gigantisches Messer sauber in der Mitte. Doch er steuerte nicht Bianca oder den Wasserfall an, sondern infizierte den gesamten Weltenrand. Hälften von Hölzern und lose Teile von Rinden waberten durch die Luft. Die lockere Erde löste sich auf oder verteilte sich in der Schwerelosigkeit. Der Spalt bombte Krater in den Papierboden und schälte die Wand. Ein Sog entstand in den Untiefen. Er saugte jedes Grashalm auf, das er in die Finger bekam.

Die Bäume verhielten sich anders. Sie brachen jedes Gesetz der Physik, das Bianca kannte. Die Papierriesen steckten in der Luft fest und blieben eisern an ihrer Stelle, obwohl sich keine Wurzeln und Erde mehr unter ihnen befanden. Die Schluchten erstreckten sich ausgehend von den Rändern über die wuchernden Wälder und umzingelten die Welt. Die Stämme der Bäume wurden immer dünner und länger, als sauge man ihnen die Lebenskraft ab. Es schien, als zog jemand am oberen und unteren Ende, bis sie sich so weit ausdehnten, dass sie in den Himmel reichten. Sie mutierten zu dürren Strichen, die immer blasser wurden, bis sie die dunkelbraune Farbe vollends verloren hatten. Hinter ihnen leuchtete das Nichts drohend auf. 

Wie fasrige Gummibänder, die nebeneinander vertikal aufgespannt wurden, umgaben sie die Welt. Alle Bäume, Pflanzen, Sträucher und Blätter lösten sich auf, zerlegten sich in ihre Einzelteile, bis sie zu Fäden entknotet wurden. Die Striche drängten sich so dicht aneinander, dass sie wegen des Platzmangels nun doch näher zur Mitte der Welt wandern mussten. Sie kamen nur langsam voran, doch Biancas scharfes Auge beobachtete die Bewegung kritisch. Sie kannte diese heimtückische Vorgehensweise zur Genüge.

"Verdammt", zischte Bianca und drehte sich nach vorne. Sie stolperte und kam ins Wanken. Sam ergriff ihre Hände. Der Anblick der fasrigen Bänder mit dem Nichts als Hintergrund flatterte durch ihren Kopf und brachte alles durcheinander. Blinzelnd richtete sie sich auf, schüttelte Sam ab und rannte weiter.

"Alles okay?", fragte Liz, als sie zu ihnen aufgeholt hatte. Finley lief neben ihr und setzte sich seinen Hut auf. Der Wind wollte ihn ergreifen und wegflattern lassen, doch er hielt Hildegard fest in seinen Händen.

"Ja", presste Bianca hervor und vermied es, über die Schulter zu blicken. Sie mussten nach vorne sehen. Nicht nach hinten. Oder zur Seite. Verdammt. Hoffentlich ließen sich die anderen nicht vom dystopischen Anblick hypnotisieren. Bisher lagen ihre glitzernden Augen auf dem nebeligen Wasserfall, der immer näher kam.

"Und was machen wir, wenn wir dort sind?", fragte Finley mit gerunzelter Stirn. Aus dem Augenwinkel sah Bianca, wie Liz sich voller Vertrauen ihr zuwandte und auf eine sinnvolle Antwort hoffte. Nicht die Angst ließ sie weiterlaufen, sondern Bianca. Liz verließ sich auf sie. In ihr bäumte sich Frustration auf. Sie könnte sich übergeben, so schlecht wurde ihr bei dieser Erkenntnis.

"Halt den Mund, ich muss mich konzentrieren!", keifte Bianca und Liz zog den Kopf ein. Sie ertrug es nicht. Sie ertrug nicht, wie sie von ihnen angesehen wurde. Von allen drei. Als wäre sie die Erlöserin, die alle retten würde. Wütend blitzte sie Sam an. Wenigstens er könnte es lassen, da er verstand, was in ihr vorging. Er wusste genau, dass sie nichts für sie machen konnte. Denn sie waren verdammte Protagonisten. Protagonisten, deren Schicksal es war zu sterben. Biancas Augen brannten wie Feuer.

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