Kapitel 5 oder Zicke auf zwei Rädern

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Als ich durch unsere Tür ins Haus trat, saß Jessie in der Küche und frühstückte. Sie beobachtete, wie ich meine Jacke an den Hacken hing und mir ein Glas Wasser holte.

"Hast du geheult?", fragte sie schließlich neugierig.Ihre Stimme war faszinierend - verzweifelt bemüht, höflich zu klingen, hörte ich doch heraus, dass die Prinzessin sauer und enttäuscht wegen irgendetwas war, das sie versuchte zu überdecken.

"Dir auch einen wunderschönen guten Morgen!", knurrte ich.

"Du weißt genau wie ich, dass er alles andere als schön ist!", gab sie zurück.

Ich verließ wortlos die Küche und ging in mein Zimmer.

Die Prinzessin war also eine Zicke. Gut zu wissen.

Erst als ich meine Schuhe auszog, fiel mir ein, dass es einen einfachen Grund für ihre schlechte Laune geben könnte: ich war joggen gewesen. Was sie nicht mehr konnte.Etwas beschämt beschloss ich, demnächst etwas freundlicher zu ihr zu ihr zu sein.

"Wieso bist du eigentlich hier gelandet?", fragte sie mich, als ich frisch geduscht in der Küche nach etwas essbarem suchte.

Ja, wie war ich hier gelandet?

"Was denkst du denn?", gab ich die Frage scheinheilig zurück. Mal schauen, was sie antworten würde.Mit ihren dunklen Augen sah sie mich scharf an."Da du anscheinend ja ganz prima laufen kannst, musst du aus der psychatischen Klinik sein.", erörterte sie bitter."Essstörung?"

Ihre Vermutung traf mich völlig vorbereitet.

"WAS?!?", rief ich ironisch lachend aus.

Aber innerlich fühlte ich mich schlecht.Schuldbewusst sah ich auf den einzelnen Toast, der mit einer Scheibe Käse auf meinem Teller versauerte.

Im Flur stand ein großer Spiegel. Aber ich brauchte mein Spiegelbild gar nicht, um zu wissen, dass ich viel zu dünn war.Ich hatte einfach nicht mehr die Motivation gehabt, zu essen.

"Wieso bist DU hier?", fragte ich schließlich in die Stille.

Aus dem Wohnzimmer ertönte ihr spöttisches Lachen. "Du darfst dreimal raten!"

"Gespaltene Persönlichkeit?", scherzte ich und wurde eine Sekunde später von einem Kissen gezielt am Kopf getroffen.Lachend warf ich zurück und sie fing es elegant mit einer Hand. Eine Weile kabbelten wir uns und ich hatte tatsächlich so etwas absurdes wie Spaß.

Aber dann sprach die andere Stimme in meinem Kopf wieder und ich wurde wieder zu dem Arschloch, das ich seit jener Nacht und eigentlich schon länger war.

"Übrigens: Du musst mir abends oder so nicht den Teil, den für nicht isst, dalassen. Ich bin nicht der Müllschlucker für deine Reste.", bemerkte ich spitz und stand wieder auf.

"Da will man einmal nett sein!", seufzte sie.

"Du brauchst nicht nett zu mir zu sein; ich werde es nicht erwidern.", sagte ich.

Jessie stöhnte. "Wieso musste ich von all den gestörten Typen da draussen eigentlich genau dich abkriegen?"

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. Ich wusste nicht, wie lange niemand mehr so mit mir gesprochen hatte.

"Tja, nicht jeder kann so perfekt sein!", gab ich zurück.

Sie verdrehte ihre Augen. "Du bist ein kompletter, eingebildeter Idiot!", bemerkte sie.

"Und du bist eine Zicke auf zwei Rädern!"

Sobald die Worte draußen waren, verfluchte ich mich dafür. Wie konnte man nur so blöd sein und jemanden, der er seit kurzem im Rollstuhl saß, so beleidigen?

Aber sie reagierte nicht so, wie ich es erwartet hätte.

Wortlos rollte Jessie auf mich zu und machte sich in ihrem Rolling so groß wie möglich.

Sie heulte nicht oder jammerte, dass ich gemein war.

Aber sie zeigte mir mit ausgestrecktem Finger, dass ich näher kommen sollte.

Perplex tat ich es und sie schien mir etwas in mein Ohr flüstern zu wollen.Stattdessen aber holte sie aus und ehe ich reagieren konnte, hatte ich klatschend ihre flache Hand auf der Wange.

"Du bist ein Arschloch, Louis!", flüsterte sie in mein Ohr.

Meine rechte Gesichtshälfte brannte, als ich sie ansah.

"Ich warne dich: schlag mich noch einmal!", knurrte ich.

Sie lachte nur. "was willst du groß machen?"

"Lass es einfach!"

"Dann beleidige mich nicht noch einmal!" Ihre hörte aus ihrer Stimme, dass der Rolli ein heikles Thema war.

"Ich habe keine Lust mehr, mich mit Dir zu streiten, Prinzessin.", sagte ich schließlich.

Damit ließ ich sie sitzen und stapfte, mal wieder in mein Zimmer.

Es war nicht so, dass wir nichts zu tun hatten. Jessie wurde jeden Morgen und nach der Mittagspause abgeholt und machte Übungen in der Reha-Klinik.Und auch ich hatte tägliche Therapiesitzungen mit Dr. Klein.Dieser Mann war einer der schlimmsten Menschen, den ich jemals kennenlernen musste.In seinen Stunden sprach ich kein Wort.Wenn er wissen wollte, wie es mir ging, sollte er die Klatschzeitschriften lesen und sich vorstellen, in meiner Haut zu stecken.

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