Kapitel 10 oder Jessie's Geschichte

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Sie seufzte und fuhr sich durch die Haare.

" Ich bin die Tochter von Sarah und Paskal James. Sie waren beide Zirkusartisten und haben für ihre Berufung gelebt. Als mein Bruder geboren wurde, zogen sie ein paar Jahre zu meinen Großeltern nach

Irland, aber schon nach kurzer Zeit packte sie die Sehnsucht nach der Manege.

Also ließen sie Bradley bei meinen Großeltern und kehrten in die Ukraine in den nationalen Zirkus zurück.

Als ich geboren wurde, gaben sie mich nach einem Jahr auch in die Obhut von Oma und Opa.

Ich hatte damit nie ein Problem.

Bradley ist zehn Jahre älter ich, deshalb war er immer der perfekte Vaterersatz für mich.

Mit 20 ist er dann nach Hollywood und ich blieb bei meinen Großeltern. Aber auch in mir lebte das Zirkuskind und als ich vierzehn Jahre alt war, durfte ich endlich zu meinen Eltern in den Zirkus.

Ja, ich habe die Schule in einer schnellen Prüfung beendet und habe nur den Hauptschulabschluss.

Aber das war mir damals so egal! Ich durfte endlich das tun, wofür ich geboren worden war.

Zwei Wochen später kam ich in der Ukraine an und alles war wie in einem Traum.

Dort lernte ich Parvel kennen. Er ist der beste Freund, den man sich vorstellen kann.

Aber nach einem Jahr gab es ein großes Unglück. Meine Eltern und ich waren in Kiew unterwegs.

Wir standen am Hafen, als plötzlich ein Auto auf uns zuraste.

Mein Vater hob mich auf die Kaimauer, deshalb ist mir nichts passiert.

Aber ich musste zusehen, wie dieses verdammte Auto meine beiden Eltern an der Mauer einquetschte.

Drei Tage später haben wir sie beide zu Grabe getragen."

" Ach du großer Gott!", entfuhr es mir. Sie hatte echt ein hartes Leben gehabt.

" Das Schlimmste war; Jedes Jahr sterben Artisten überall auf der Welt in der Manege. Wenn man sterben muss, dann ist dies ein guter Weg, so sagen wir. Man macht einen Fehler in der Manege und bezahlt dafür. Das rettet die Ehre, weißt du? Man stirbt, während man das tut, was man am liebsten mochte.

Aber sie sind nicht in der Manege gestorben. Sondern durch den Fehler eines Autofahrers. Brutal und grausam. "

Jessie seufzte schwer und ich wusste, dass sie noch nicht fertig mit erzählen war.

" Ein Jahr lang biss ich mich durch und versuchte mein Bestes, aber ich schaffte es nicht, das Geschehene zu verarbeiten.

Zwei Tage vor dem ersten Jahrestag flatterte ein Brief in meinen Wagen: Eines der hohen Tiere beim International Zirkus of European Youth hatte mich entdeckt. Sie wollten mich. Sofort.

Zwei Wochen später landete ich in London und begann mein neues Leben in dem Zirkus of Youth. "

Sie lächelte bei dem Gedanken.

" Der Zirkus war perfekt! Wir tourten durch ganz Europa und weiter! Es war so, als hätte ich den Sinn in meinem verdammten Leben gefunden! Endlich war ich wieder glücklich! "

Sie schluckte hart und ich wusste, dass der jetzt folgende Teil nicht schön werden würde.

"Und dann, vor der einen Show, circa drei Jahre, nachdem ich dort angefangen hatte.

Da war ein Junge, der mich liebte, aber ich hatte einen Freund. Die zwei prügelten sich. Ich kam dazu und trennte sie, aber von beiden Seiten kamen ein paar hässliche Bemerkungen.

Ich musste mich dann für die Show fertig machen.

Fünf Jahre ohne einen einzigen Unfall oder Fehltritt in der Manege.

An diesem Abend aber war ich abgelenkt. Ich kann nicht sagen, dass die zwei Jungs Schuld sind. Es war eine komplizierte Nummer und ich war mehr als müde.

An diesem Abend kam wohl einfach alles zusammen.

Auf jeden Fall machte ich einen gravierenden Fehler in einer Formation. Es würde zu lange dauern, es dir genau zu erklären.

Auf jeden Fall hing ich an Tüchern von der Decke - das Klassische eben. Und eine Aufgabe ist es, sich so einzudrehen, dass man bis fast auf den Boden fällt - du kennst das bestimmt.

Und da war mein Fehler: ich habe mich so eingedreht, dass sich mein Bein beim Herunterfallen verdreht hat.

Ich habe mich aufgefangen und wusste: Das scheiß Ding war gebrochen.

Jetzt stand ich vor der Entscheidung: Aufhören und die Schmach kassieren oder weitermachen und den Schmerz ertragen.

Ich war an diesem Tag nicht wirklich zurechnungsfähig. Ohne groß nachzudenken habe ich mich fürs Weitermachen entschieden. Wenn man die Gurte etwas höher ansetzt zum Wickeln, dann wird das schon überlebbar sein, dachte ich mir. Und tatsächlich ging es eine Minute oder so gut.

Aber bei einer Aufgabe musste ich mein Bein belasten und da hab ichs dann verloren.

Meine Korperspannung brach und ich bin einfach wie ein schlaffer Sack heruntergefallen.

Zehn verdammte Meter.

Das erste, das man lernt, wenn man an die Seile geht, ist das Fallen.

Es gibt Techniken, mit Hilfe derer man sich wieder fangen kann. Das habe ich natürlich versucht.

Aber sie beeinhalten die Beine.

Und ich habe die Seile einfach nicht mehr zu fassen bekommen.

Und so bin ich gestürzt.

Zehn verdammte Meter tief."

Als ihre Stimme verklang, schüttelte ich mich.

" Das ist ja furchtbar! ", war alles, was ich hervor brachte.

" Bei dem Sturz ist meine Wirbelsäule gebrochen. Kleine Knichensplitter haben meine Organe zerstochen und die Muskeln zerstört. Vielleicht besteht die Möglichkeit, dass ich wieder laufen kann, aber ich weiß es nicht.

Man ist sich nicht sicher. "

Alles, was ich tun konnte, war schweigen.

Was eine Geschichte!

Wie grausam das Leben doch war.

Alles auf NullWo Geschichten leben. Entdecke jetzt