Kapitel 20 - Zirkus Schicksal

108 11 0
                                    

Als nächster kam Parvel in Jessies Zimmer.

Auf leisen Sohlen schlich er an ihr Bett.

" Komm her, Junge!', forderte Jessie ihn auf und zog ihn in eine enge Umarmung.

" Wie geht es dir? " Seine Stimme klang immer noch etwas erkältet und er zog eine Grimasse, als er das merkte.

Jessie lachte. " Naja. Ganz so schlimm wie bei dem ersten Unfall ist es nicht. "

Parvel schluckte schwer. " Jessie! Es tut mir total leid! Ich hätte das nicht machen dürfen! Ich meine - natürlich bist du jetzt anfälliger als früher und...."

"Parvel! ", unterbrach Jessie seinen Redefluss. " Hör jetzt auf, dir Vorwürfe zu machen. Du kannst hierfür genauso wenig wie für den Unfall. "

"Ich hätte die beiden trennen müssen! Ich hätte das nie zulassen dürfen. Ich hätte dich an der Show hindern müssen! Ich hätte. ..!"

" PARVEL!"

Jetzt schrie Jessie und es wurde von einem schweren Husten gefolgt.

Dann endlich schwieg der Junge.

Diese Diskussion schienen sie schon oft geführt zu haben.

" Es war verdammt nochmal mein Schicksal. ", seufzte Jessie.

Heftiges Kopfschütteln widersprach ihr.

Aber Jessie sah nachdenklich aus dem Fenster.

" Vielleicht war es ja wirklich meine Bestimmung. Denk doch mal nach, Parvel. Ich hätte diesen Beruf so oder so nicht ewig ausüben können."

Wieder schüttelte der Junge den Kopf, dieses Mal heftig und bestimmt.

" Jessie! Du wurdest für die Manege geboren! Das war und dort ist immer noch dein Platz. Du gehörst zum Zirkus wie... "

Parvel stoppte und schluckte.

"Wie meine Eltern! ", fügte er schließlich an. " Wie deine und meine Eltern. "

Plötzlich wurde Jessie ganz ruhig.

"Deine Eltern waren wundervolle Menschen und ich glaube nicht, dass ich in einem Vergleich ihnen gerecht werden kann. "

Nachdenklich sah jetzt auch der Junge aus dem Fenster.

" Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, das leben ist ein Zirkus. Erinnerst du dich an deine erste Vorführung überhaupt? Man war so extrem aufgeregt und hatte solche Angst. Aber als man dann in der Manege stand und das erste Mal der Applaus aufbrandete, fühlte man sich plötzlich wie neu geboren. Plötzlich machte alles Sinn. Plötzlich war es all den Schweiß und all die Tränen der Vorbereitung wert.

Und alle folgenden Aufführungen sind wie das Leben - man wechselt die Manege und den Ort des Auftritts wie den Lebensabschnitt.

Und irgendwann hat es ein Ende. Manchmal geplant und wohl überlegt - dann ist die letzte Vorstellung etwas ganz Besonderes, an das man sich oft zurück erinnert. Aber manchmal endet die Karriere auch abrupt - ein falscher Schritt, eine unbedachte Bewegung und das Rad kippt. Dann zieht das ganze Leben in der Manege an einem vorbei und man denkt sich: alles, aber lass es nicht jetzt vorbei sein. Denn wie oft sind gerade die grausamen Vorstellungen die, bei denen alles perfekt sein sollte. "

Parvel schwieg lange.

" Dann kenne ich zu viele Menschen, bei denen es genau diese Shows waren, bei denen sie alles verloren haben. "

Jessie lachte bitter. " Ist es nicht ironisch? Die Manege, die mir so viel gegeben hat und mein Leben ausmacht, genau dieser Kreis aus Holzplanken und Stoff hat mir alles genommen, was ich zum Leben brauchte. "

Parvel nahm sie in den Arm. " Du hast nicht alles verloren. Ich werde immer für dich da sein!", flüsterte er und zum ersten Mal seit Ewigkeiten sah ich Jessie lächeln. Echt lächeln.

" Danke, dass du hier bist! ", hauchte sie.

" Da draußen steht noch einer, der zu dir will. ", grummelte Parvel mit verkniffenem Mund.

Jessie's Augen leuchteten kurz auf, dann wurde ihr Ausdruck fragend.

" Es ist nicht der, den ich denke, oder? ", fragte sie und Parvel schüttelte mit einer Grimasse den Kopf.

" Nein. Wobei mir der genauso ungelegen wäre. "

Alles auf NullWo Geschichten leben. Entdecke jetzt