Kapitel eins | Vom Weiten beobachten

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Ein Seufzen entfuhr meinen Lippen als ich mit meinen Augen ein weiteres Mal den Schulhof absuchte – doch von Sofia war immer noch weit und breit keine Spur. Nichts. Nada. Ich fuhr mir genervt durch die Haare. Sie waren schon wieder zu lang geworden. Ich unterdrückte den Drang wieder zu seufzen und lehnte mich leicht gegen den Zaun zu meiner Rechten.

Meine beste Freundin ließ immer gern auf sich warten. Das war eine Macke von ihr. Ich hatte noch nie verstanden, was genau sie damit erreichen wollte, aber es war auch besser ihre Aktionen nicht in irgendeiner Weise in Frage zu stellen.

Als ich wieder müde über den Schulhof blickte kam es mir so vor, als hätte ich das in der letzten Minute 1000 Mal gemacht und konnte nicht verhindern mir wie ein Roboter vorzukommen, obwohl das wahrscheinlich der dümmste Gedanke der letzten Minuten war, die ich schon hier gestanden hatte. Wirklich der dümmste.

Mein Blick blieb an einer Gruppe Footballspieler und Cheerleader hängen, die gerade allesamt lachend aus dem Schulgebäude spazierten – natürlich steuerten sie sofort das Footballfeld an. Diese Sportfreaks trainierten schließlich fast jeden Tag. Und um ganz ehrlich zu sein: ich habe keine Ahnung warum, denn sonderlich gut sind sie nicht. Aber vielleicht darf ich das auch gar nicht beurteilen. Schließlich saß ich nie auf den Tribünen und schaute mir den ganzen Scheiß auch noch tatsächlich an. Nein, das wäre zu viel des guten.

Mein Blick fiel auf die kleine Gruppe, die hinter den Footballspielern herlief. Beliebte Schüler sind immer miteinander befreundet, auch wenn sie es unter normalen Umständen nicht gewesen wären. Es war wie eine Verschwörung den anderen Schülern gegenüber. Und nach den Sportlern aller Art kamen nun mal die Reichen Kinder, die nur so in dem Geld ihrer Eltern badeten in der Beliebtheitspyramide der High-School. Wahrscheinlich konnten die sich auch alle Freunde kaufen, so reich wie sie waren.

Ich konnte es nicht verhindern – ich sah ihn wieder an. Wyatt Badgley. Er war kleiner als seine Freunde, schien aber trotzdem immer aus der Menge herauszustechen. Zu mindestens sah ich das so.

Seit wir auf der High-School sind kann ich nicht anders als ihm immer wieder hinterher zu schauen. Ich habe ihn schon immer bewundert obwohl wir noch nie ein Wort miteinander gewechselt haben. Klar, wir hatten zusammen Geschichte aber das war kein Fach wo man oft dazu aufgefordert wurde mit seinen Mitschülern ins Gespräch zu kommen. Geschichte war nun mal Geschichte. Es war vorbei und daran konnte niemand etwas ändern. Außerdem war Mr. Henderson nicht gerade der jüngste und somit auch gegen Gruppenarbeiten. Zufälligerweise saß ich in eben diesem Geschichtskurs genau so schräg hinter Wyatt, dass ich ihn perfekt beobachten konnte. Nicht, dass das irgendwie wie ein verrückter Stalker klang, aber ich könnte Wyatt Badgley wahrscheinlich stundenlang anschauen und beobachten, ohne mich zu langweilen. Ich klang definitiv wie ein Geistesgestörter.

Irgendwie faszinierte mich seine Art. Er war schüchtern, doch genau diese Menschen sind am einfachsten zu durchschauen. Sie verstecken sich zwar auf eine Weise, machen sich klein, wollen nicht gesehen werden. Aber im Endeffekt verstecken sie sich nicht selbst hinter irgendeiner Maske oder einer großen Klappe. Genauso wie Wyatt. Er lachte über die Witze, die er auch tatsächlich lustig fand – schließlich denkt er, niemand würde ihn beachten. Er verstellt sich nicht. Man muss nur genau hinsehen.

Und gerade in der heutigen Gesellschaft fällt es einem schwer sich nicht zu verstellen um in das Bild zu passen, das andere für einen aufmalen. Besonders, wenn man beliebt ist und unter dem ständigen Druck steht, dass alle Augen auf einen Selbst gerichtet sind. Ich bewunderte ihn.

Wyatt lachte gerade. Und es sah unfassbar niedlich aus. Seine Augen waren ganz klein geworden – fast zu Schlitzen verengt – und er hatte den Mund weit aufgerissen, so dass seine weißen Zähne zum Vorschein kamen. Außerdem hatte er den Kopf ein wenig eingezogen und blickte leicht Richtung Himmel. Ich konnte es nicht hören, sein Lachen, aber ich wusste es klang wunderschön.

Heute trug er schwarze Skinny-Jeans und und ein schlichtes weißes T-Shirt, auf dem irgendeine Marke stand, von der ich mir wahrscheinlich nicht mal die Socken oder die Unterwäsche hätte leisten können. Meiner Meinung nach passte es zu ihm und um das mal ganz subtil auszudrücken: er sah unheimlich sexy darin aus. Aber wenn ich ehrlich zu mir war, wusste ich, das ich das zu jedem seiner Outfits sagen würde. Vielleicht durfte ich das aber auch gar nicht beurteilen, denn ich hatte ganz eindeutig einen Crush auf ihn seit ich ihm das erste Mal begegnet bin. Und es frustrierte mich, denn ich wusste ganz genau, dass er mich nie sehen würde.

„Welcher hotte Boy oder welches hotte Girl hat gerade die Ehre so von dir angesehen zu werden, Warholden?"

Erschrocken fuhr ich herum und blickte sofort in Sofias grinsende Gesicht. Ihre stark nachgemalten Augenbrauen wackelten wie verrückt und in ihren schwarz geschminkten Augen blitzte etwas neugieriges. Sie wusste, das ich Bi war. Alle meine Freunde wussten es. Ich machte kein Geheimnis daraus. Natürlich wusste sie auch über Wyatt Bescheid (vor ihr kann man keine Geheimnisse haben). Aber Sofia Garcia brachte dieses Ganze Ich-will-jedes-einzelne-Detail-deines-Liebeslebens-wissen auf ein ganz neues Level.

„Sag ich dir nicht", meinte ich grinsend und zwinkerte ihr zu. Ich konnte ihr nicht sofort sagen, dass es schon wieder Wyatt Badgley war, dem ich hinterher starrte. Sie würde es aber trotzdem herausfinden, wollte sie es wirklich wissen.

Sie verdrehte nur die Augen und richtete ihr knappes knall-pinkes Top. Es war gerade so noch kein Verstoß gegen den Dresscode unserer Schule. „Gut", sagte sie dann, „ich weiß sowieso, dass es Badgley war." Sofia musste immer alle bei Nachnamen nennen. Selbst wenn sie mit jemandem ins Bett hüpfte. Wahrscheinlich war das so was wie ein Fetisch für sie.

„Warten wir noch auf Leo?", wechselte ich etwas plump, aber so beiläufig wie möglich das Thema, nachdem ich beschlossen hatte ihren Kommentar zu ignorieren. Idiotin.

„Jap", antwortete sie knapp und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie hatte ein relativ teures, weil sie vor einem Jahr eine Beziehung mit einem ziemlich reichen Typen, der hier in Hablern studierte, geführt hatte und er ihr ständig Geschenke machte. Und da ich Sofia gut kannte, wusste ich, dass sie das ganze schamlos ausgenutzt hat. Sie war kein Typ für Beziehungen. Ihr reichten One-Night-Stands ab und zu (wie sie selbst immer betonte). Für eine 17 jährige führte sie ein sehr reiches Sexleben. Aber vielleicht lag das auch in ihrer Natur, schließlich war ihre Mutter eine Prostituierte gewesen bevor sie mit ihr schwanger gewesen war. Heute litt sie unter starken Depressionen und verließ das Bett nur um sich einmal am Tag eine Tütensuppe zu machen. Außerdem war sie Latina. Das erklärte doch schon alles.

Da meine Freundin abgelenkt war drehte ich meinen Kopf wieder in Richtung Schulhof, aber Wyatt war nicht mehr in meiner Sichtweise. Mit Mühe und Not unterdrückte ich ein leises Stöhnen und wollte mich gerade wieder zu Sofia drehen als ich meinen besten Freund Leo sah, welcher gerade auf uns zu kam. Er legte seinen Finger auf die Lippen und tat so, als würde er sich anschleichen.

Sofia und er führten den Wettbewerb schon seit sie sich vor ein paar Jahren kennengelernt hatten. Ständig lauerten sie sich gegenseitig auf um sich zu erschrecken. Schaffte man es den anderen zu erschrecken, dann bekam man einen Punkt, doch irgendwann hatte ich den Überblick verloren, wie genau der Punktestand aussah.

„Shoemaker du arschiges Arschloch!", rief Sofia plötzlich ohne von ihrem Handy aufzuschauen und zeigte ihm den Mittelfinger. „Warholden hat dich verraten!"

Leo blieb auf der Stelle stehen und sah mich mit einem ist-das-ihr-Scheiß-Enst-Blick an. Ich zuckte nur entschuldigend mit den Achseln und zog eine schon fertig gedrehte Zigarette hinter meinem Ohr hervor. Meine dunklen Locken waren perfekt um Zigaretten auf dem Schulhof zu schmuggeln. Vor allem, wenn sie so scheiße lang waren wie jetzt.

„Komm, gehen wir", forderte ich meine Freunde auf, ehe ich mich umdrehte und mir die Zigarette in den Mund steckte.

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