Kapitel sechs | Freitag, hier auf dem Parkplatz

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Der Geschichtsunterricht zog sich in die Länge wie Kaugummi. Mr. Henderson faselte irgendwas vom 2. Weltkrieg, was auf unerklärliche Weise sein Lieblingsthema war. Wir hatten letztes Schuljahr schon damit angefangen. Und ganz ehrlich: ich will mir nicht hunderte von Lernfilmen anschauen, wo man über die KZ's berichtet. Das war einfach nur gruselig.

„Langweile ich Sie, Mr. Warholden?"

Ich blinzelte und blickte in das missbilligende Gesicht meines Lehrers. „Wollen Sie eine ehrliche Antwort?", nuschelte ich laut genug, dass es alle hörten. War nicht mein schlauster Moment.

Mr. Henderson entfuhr ein leises Schnauben. „Um ehrlich zu sein, kann ich sie mir schon denken." Er rümpfte leicht die Nase und sah mich durchdringend an. „Wenn Sie nun schon so schlau sind, können Sie mir ja auch einen Aufsatz bis nächste Woche über das Konzentrationslager Auschwitz schreiben."

Ich fuhr wie vom Blitz getroffen nach oben und setzte mich senkrecht hin. Scheiße. Das war nicht besonders gut im Moment. Ich übernahm am Wochende drei zusätzliche Schichten um sie für Winterschuhe zurückzulegen, die ich dringend brauchte und würde ich eine schlechte Note in dem Aufsatz bekommen, wäre meine Geschichtsnote schon am Anfang des Schuljahres komplett im Arsch. Und das wusste Mr. Henderson nur zu gut.

„Bis nächste Woche?", fragte ich vorsichtig.

„Nächste Stunde möchte ich den Aufsatz gerne auf dem Tisch liegen haben", sagte mein Lehrer streng und widmete sich mit einem Blick auf die Klasse, die fast ausnahmslos in meine Richtung sah, wieder seinem Unterricht. Scheiße, ich würde durchfallen.

○●○

Ich war einer der letzten, der die Schule an diesem Nachmittag verließ. Ich hatte das erste Mal mehr oder weniger freiwillig die Bibliothek der Schule betreten um ein Buch für den Geschichtsaufsatz zu finden. Auch wenn ich wusste, dass ich weder die Zeit am Wochenende hatte, noch die Motivation gab es mir ein besseres Gefühl wenigsten etwas getan zu haben.

Ich hatte den Schulhof noch nie so leer gesehen und mich erstaunte wie groß er doch tatsächlich war. Aber wahrscheinlich versuchte ich mich nur davon abzubringen, nicht an den Fakt zu denken, dass Wyatt Badgley mich offensichtlich gesehen hatte.

Ich weiß, in dem Moment war es mir vorgekommen wie ein normaler Moment in meinem Leben, doch umso mehr ich über die Situation nachdachte umso mehr begann ich das Ganze anders zu sehen. Nur daran zu denken ließ mein Herz ein wenig höher schlagen. Und es machte mich verrückt, wie abgefuckt mein Gehirn eigentlich war. Zuerst fand es das ganze Scheiße und jetzt konnte ich nicht glücklicher sein.

Schieben wir's auf die Hormone. Das hätte Sofia jetzt gesagt und vielleicht hätte sie damit sogar recht.

Sofia war diejenige gewesen, die mir von einem Artikel erzählte hatte, den sie gelesen hat, in dem gesagt wird, dass Männer auch so etwas wie eine Periode haben und wie die Frauen einmal im Monat Stimmungsschwankungen. Nur halt nicht so extrem wie bei den Frauen.

Ich glaube ich hatte gerade meine Periode.

Normalerweise lief ich nicht gerne über den Parkplatz, aber ich wollte vermeiden an den Freshmen, also den Neuntklässlern, vorbei zugehen, einfach weil die Typen mega aggressiv sind und ich kein Bock auf so was hatte. Mit 15 hast du noch das Gefühl dir gehört die Welt, aber dann realisiert man mit 16, dass du nie auch nur ansatzweise wirklich Macht hattest – egal ob in der Schulrangordnung oder anderswo.

Auf dem Parkplatz standen noch relativ viele Autos. Viele, die weiter außerhalb von Hablern wohnten blieben immer ewig in der Schule, damit sich die Tank-Kosten auch wirklich lohnen und besuchten nach ihren Kursen so viele Clubs wie möglich.

Mein Blick war auf den Boden gerichtet. Wie immer hatte ich die Kapuze über meine Haare gelegt und die Hände in den Taschen meiner Jacke vergraben. Nach außen hin sah ich wahrscheinlich aus wie ein depressiver Junge, der die Welt so viel dunkler sieht, als sie tatsächlich ist und manchmal wollte ich wirklich nur, dass meine Probleme nicht so krass waren und ich sie nur als krass interpretierte.

Ich meine klar waren meine Probleme nichts im Vergleich zu den Problemen der Kinder in Afrika, die hungerten, weil sie so arm sind. Mir ging es ja eigentlich ganz gut, aber manchmal merkte ich wie viel einfacher es andere Schüler hatten, weil das einzige wovor sie wirklich Angst hatten, war der Ärger den sie bekommen würden, wenn sie mit einer schlechten Note nach Hause kommen würden.

Meine Eltern hatte das nie wirklich gekümmert. Der Unterschied war aber, dass sie sich auch um nichts anderes gekümmert hatten.

Während ich bei anderen Familien beobachten konnte wie die Mutter extra für die Lerngruppe (ja, in der Middle-School war ich in einer einzigen Lerngruppe gewesen und ich war auf komische Art und Weise stolz darauf) Essen auf den Tisch stellte und fragte, ob man denn nicht noch zum Abendbrot bleiben wollte, da man ja sowieso zu viel gekocht hatte. Wenn meine Eltern was kochten, dann war es eine mickrige Portion für sich selbst. Nichts mit Essen für die Kinder auf dem Tisch.
Ich wurde aus meinen negativen Gedanken gerissen, als jemand vor mich trat und ich gerade so noch abbremsen konnte.

„Du hast ja ganz schön lange gebraucht." Das war jetzt wohl ein Scherz. Ich blickte nach oben und sah geradewegs in das schüchtern lächelnde Gesicht von Wyatt Badgley. Dem Wyatt Badgley. Der Typ, der meine Hormone verrückt spielen ließ. Mit seinen braunen Augen, die im Sonnenlicht funkelten (Gott, was rede ich schon wieder) und dem unschuldigen Gesicht. Aber das zeigte ich natürlich nicht.

Stattdessen runzelte ich nur die Stirn. „Waren wir verabredet?"

„Nein", sagte er und ich konnte sie sehen, wie er leicht die Augen verdrehte. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass wir in den selben Geschichtskurs gehen? Am Freitag meine ich."

Ich zuckte mit den Schultern. „Wolltest du das etwa wissen?"

„Ja."

„Warum?" Ich ließ es bewusst provozierend klingen und verzog meine Lippen zu einem Grinsen. „Wolltest du mich etwa nicht wieder sehen?"

„Nein!", meinte Wyatt sofort und sah mich entrüstet an. „Nein, natürlich nicht. Das war der peinlichste Moment meines ganzen Lebens!"

„Was genau war jetzt peinlich für dich?"

„Alles!"

Ich hob eine Augenbraue. Daran war doch eigentlich nichts peinlich gewesen. Also an der Situation.

„Naja, du findest mich weinend auf der Straße und dann traue ich mich nicht alleine nach Hause zu gehen und frage dich als völlig Fremden – wobei du ja eigentlich nicht völlig fremd sein solltest – ob du mich nach Hause bringst."

Ich lachte. „Okay cool. Ich fand überhaupt nichts peinlich, um ehrlich zu sein."

„Wundert mich auch nicht", gab er schnippisch zurück. „Aber ich habe jetzt ein Angebot für dich."

„War für ein Angebot?" Skeptisch konnte ich nichts anderes als die Stirn wieder kraus ziehen.

„Ich habe mit Mr. Henderson gesprochen", sagte er. „Er hat mir gesagt, dass du vielleicht Hilfe bei deinem Aufsatz brauchen würdest... Also helfe ich dir und dann sind wir quitt."

„Und das bedeutet genau was jetzt?" Ich muss zugeben, dass ich die ganze Situation total strange fand. Er bot mir gerade seine Hilfe an. Weil er es peinlich fand, was am Freitag passiert ist. Und dann was? War alles wieder vergessen und wir machten weiter wie davor. Würden wir dann so tun, als hätten wir nie etwas miteinander zu tun gehabt?

„Wir tun so als ob wir nie etwas miteinander zu tun gehabt hätten", sagte Wyatt und er sprach es aus, als ob es die einzig richtige Antwort wäre und ich nur zu dumm um sie zu wissen.

Doch ich war viel zu sehr damit beschäftigt, den Fakt zu ignorieren, dass er fast eins zu eins das gesagt hatte, was ich gedacht hatte um noch irgendwas zu erwidern.

„Freitag. Zur selben Zeit wie jetzt, hier auf dem Parkplatz. Wir machen den Aufsatz bei mir zu Hause", sagte er dann entschlossen und drehte sich ohne eine Antwort meinerseits zu warten um und lief zu seinem Auto. Seine perfekt gestylten straßenköterblonden Haare glänzten in der Spätsommer-Sonne. Er gab mir nicht die Möglichkeit zu erwähnen, dass ich da eigentlich arbeiten musste...

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