„Mom, weißt du wie Blutgruppen vererbt werden?" Sie stand im Hausflur und bemühte sich, möglichst unbeteiligt auszusehen. So unbeteiligt, wie man um vier Uhr morgens auf einem Hausflur aussehen konnte, wenn man sich die Nacht mit einem Wechsel aus Selbstmitleid und einigen Folgen „X-Files" auf Netflix um die Ohren geschlagen hatte, um den Grund für das Selbstmitleid zu verdrängen.
Ihre Mutter hielt mit einem Glas in der Hand auf der Treppe inne. „Wird das ein pop quiz?" „Mein Blutspendenausweis ist gestern angekommen. Meine Blutgruppe ist AB positiv. Deine Blutgruppe ist A positiv, Dads Blutgruppe ist Null positiv." Stephanies Mutter verdrehte betont genervt die Augen, doch das Wasser in ihrem Glas begann unheilvoll zu zittern. „Folglich kann ich nicht eure biologische Tochter sein." Sie hatte gehofft, es würde ihr besser gehen, sobald sie es ausgesprochen hatte. Dass ihr ein Denkfehler auffallen würde, oder ihre Mutter einfach anfangen würde zu lachen. Sie tat es nicht. Das Wasser zitterte. „Ich glaube, wir sollten das nicht hier auf dem Flur besprechen."
„Eine Samenspende?!" Sie saß in ihre Decke gehüllt auf ihrem Bett, neben ihr ihre Mutter. Keiner von ihnen hatte sich getraut, das Licht anzuschalten, als würde das Licht das Gesagte real werden lassen. Gerade befand es sich in einem Zwischenzustand zwischen Wahrheit und Fiktion. „Nachdem Sarah auf der Welt war musste dein Vater operiert werden. Er hatte eine Entzündung in der Leiste gehabt. Dabei hat er die Fähigkeit verloren...Nunja...". Stephanie versuchte das Gesagte nüchtern zu betrachten. Es gelang ihr nicht. Sie versuchte es emotional zu betrachten. Es gelang ihr nicht. Es entzog sich ihrer Betrachtung. „Wir haben immer gesagt wir möchten zwei Kinder." Ihre Mutter lächelte traurig.
Sie war über das Wochenende nach Hause gekommen. Gegenüber ihres Betts an der Wand lehnte der Rucksack mit ihren Unisachen, den sie dort am Freitag deponiert hatte, ohne Intention ihn anzurühren. Anglistik, das Fach, das ihr Vater lehrte. Das Fach, das er ihr empfohlen hatte. Ihr als seiner Tochter...
„Hör mal, wir sind immer noch deine Eltern." „Mag sein, aber ich habe irgendwo da draußen auch noch Wurzeln! Wann hattet ihr vor, mir das mitzuteilen?" Ihre Mutter besah sich das Muster der Tapete. „Ich muss es wissen." „Was musst du wissen, Schatz? Wir sind deine Familie!" „Ich weiß es nicht, aber ich muss es herausfinden."
Einige Wochen später hastete Stephanie durch die Türen des Flughafens Berlin Tegel. In ihrem Rucksack befand sich eine Liste. Eigentlich war es etwas übertrieben, es als „Liste" zu bezeichnen. Es handelte sich um ein Post-it auf dem sich 2 Namen befanden. Zwei Namen waren alles, was sie erfahren konnte, nach unzähligen Anrufen, Diskussionen und E-mails mit stetig passiv aggressiveren Grußformeln. Zwei Namen und eine Adresse. In ihrem Kopf waren die Eindrücke der letzten Stunden noch frisch. Ihre Schwester, die sie für alle Probleme der letzten Wochen verantwortlich machte. Ihre Mutter, die versuchte den Familienfrieden wiederherzustellen. Sie sprach von „Stephies Reise", als ob sie gehen würde um eine Sightseeingtour durch Kanada zu machen. Und ihr Vater, der kaum wahrzunehmen schien, was sie gerade tat oder nicht tat.
Selbstverständlich hatte sie keinerlei Pläne gemacht, was ihr Vorgehen anging, sollte sie finden, wen sie suchte. Hätte sie die Sache durchdacht, hätte sie es sich vielleicht anders überlegt und das erschien ihr keine gute Option zu sein. Sie hatte sich vage über Motels in der Nähe von Toronto informiert, ohne irgendwelche Buchungen anzustellen. Wirklich, das Einzige, was schlechter durchdacht zu sein schien, als diese Aktion, war vermutlich der Rest ihres Lebens.
Erst als sie im Flugzeug saß und Berlin unter sich vorbeiziehen sah, erlaubte sie der Gravität der Situation, sie zu überkommen. Es gab schließlich keine Rückzieher in 10.000 Metern Höhe.
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North is where the wind smells of pines
Про оборотнейOriginaltitel: Das inkohärente Gewusel, das sich eines Tages zu einem Plot verdichten könnte (working title) Liebe Leute auf Wattpad, ich werde gar nicht erst versuchen, so zu tun, als sei das hier viel mehr, als eine äußerst mittelmäßige Urban Fant...