Als Stephanie sich von ihrem Platz in der Ecke des Sofas umsah, spielten sich vor ihrem inneren Auge die Szenen der letzten beiden Stunden ab. Zuerst hatten sie die Konversation am Esstisch geführt. Das heißt, Stephanie und Chris hatten eine Konversation geführt. Der Wolf...nein Jeremy, rief sich Stephanie zur Ordnung, hatte einfach daneben gesessen und gewirkt, als wisse er nicht wirklich etwas mit sich anzufangen.
Allgemein war die Stimmung zwischen ihm und Stephanie recht angespannt gewesen. Zuerst hatte er das Zimmer verlassen wollen, doch Chris war der Meinung gewesen, er solle dabeibleiben. Stephanie war sich nicht sicher gewesen, welcher Meinung sie gewesen war. Nachdem sie am Esstisch nur stumm Chris' Erzählung gelauscht hatte, hatte sie sich kurz in die Küche verzogen um ihre Gedanken zu sortieren. Die Folge dessen war gewesen, dass sie das Selbe Gespräch noch einmal in der Küche geführt hatten. Das Ganze hatte sich dann noch einmal auf dem Boden vor dem Fernseher wiederholt. Jetzt saßen sie alle auf der Couch. Chris hatte darauf geachtet, sich zwischen Stephanie und Jeremy zu setzen, sodass sie nun am Fester und die anderen Beiden rechts neben ihr saßen und sie alle an die Wand gegenüber stierten, ohne ein Wort zu sagen.
Irgendwann hatte Stephanie alles revue passieren lassen und war bereit für die nächste Runde. „Okay, also nochmal zusammenfassend." Chris warf stöhnend den Kopf in den Nacken. „Jaja. Korrigiere mich einfach, wenn ich einen Fehler mache. Also. Ihr wart in den Semesterferien campen. Am Laka Huron." Sie konnte Chris' Blick auf sich spüren, doch sie starrte weiterhin mit vor der Brust verschränkten Armen an die Wand. „Ich glaube nicht, dass es eine Rolle spielt, dass..." „Ich versuche nur, alle Details richtig einzuordnen!" „Okay. Okay. Fahre fort." „Also ihr wart campen am Lake Huron und eines Nachts war Jeremy aus Gründen allein im Wald unterwegs, von denen du betonst, dass sie keine Relevanz für die Geschichte besitzen." Chris nickte. Jeremy nickte ebenfalls. „Und dort wurde er von einem Wolf attackiert, der ihn infolgedessen gebissen hat. Er ist also zum Zelt zurück und hat sich wenige Minuten später einfach spontan in einen Wolf verwandelt." Sie machte eine Kunstpause. „Wie man das eben so tut." Jetzt starrten sie alle drei wieder an die Wand. „Und das war dann eine Weile der status quo. Ein paar Tage lang. Also seid ihr so durch die Gegend getingelt, in der Hoffnung, den Wolf eventuell wiederzufinden und von da aus ein weiteres Vorgehen zu planen." Chris schnaubte empört. „Hey, hör mal, du tust so als hätte es ein Handbuch gegeben, das wir hätten lesen können. Wir waren beide verstört, müde und mit jedem Tag verzweifelter."
Stephanie wandte sich zu Chris um. „Okay, Entschuldigung, ich habe es nicht so gemeint. Ich versuche hier nur nicht den Versand zu verlieren." Chris blickte aus türkisfarbenen Augen zurück. „Schon okay." Er lächelte ermutigend. „Mach weiter." „Also irgendwann habt ihr dann durch Zufall entdeckt, dass wenn Jeremy dich kratzt, ihr sozusagen tauscht, also du dich in einen Wolf verwandelst und er sich wieder zurück in...Jeremy. Da stellt sich mir die Frage, wieso habt ihr den Wolf dann nicht einfach weitergegeben?" Chris gab ein kurzes Schnauben von sich und antwortete mit einem belustigten Unterton. „Weil das moralisch verwerflich gewesen wäre? Abgesehen davon funktioniert es nicht. Wir können nur untereinander tauschen."
Diese Information war für Stephanie neu. „Woher wollt ihr das wissen, wenn ihr es nie ausprobiert habt?" Chris und Jeremy blickten sich gegenseitig an. „Das ist nicht meine Geschichte." Sagte er bestimmt. Überrascht wandte sich Stephanie Jeremy zu, der seinen Blick wieder auf die Wand geheftet hatte. „Aber jetzt, wo ihr wisst, dass ihr Halbbrüder seid..." Chris führte den Gedanken zu Ende. „Das ist zumindest gerade unsere beste Theorie, ja." „Okay. Also seid ihr auf die Idee gekommen, die Zeit 50/50 aufzuteilen, sodass jeder die Hälfte als Mensch und die andere als Wolf verbringt." „Nicht, ursprünglich, nein. Eigentlich wollte Jeremy fortgehen und sich als Wolf durchschlagen. Aber dann haben wir...unsere Meinung geändert." Jeremy hatte sich jetzt von Chris abgewandt und blickte Richtung Küche. „Und so geht das jeden Tag? Aufstehen, duschen, sich in einen Wolf verwandeln, frühstücken?" Chris schmunzelte. „So ziemlich, ja." „Und wie kommuniziert ihr miteinander?" Chris wandte sich zu Jeremy um. „Willst du es ihr erzählen?" Jeremy funkelte ihn mürrisch an. Zumindest interpretierte Stephanie es so.
Chris stand auf, durchquerte den Raum und zog ein großes Stück Pappe zwischen den DVD's unter dem Fernseher hervor. „Die meiste Zeit reicht Körpersprache aus. Nicken und Kopfschütteln funktionieren ganz gut, sind aber nicht immer eindeutig. Um sicher zu gehen haben wir spei Spielkarten." Er zog zwei ziemlich mittgenommene Karten auf seiner Hosentasche und legte sie auf dem Couchtisch ab. „Pik sieben für „nein", die Herzdame für „ja"." Jetzt platzierte er das Stück Pappe neben den Karten. Es handelte sich um eine abgewetzte, gelbe Buchstabenlerntafel, auf der die Buchstaben des Alphabets jeweils mit einem entsprechenden Tier versehen waren. Stephanie musterte die ausbeglichenen, kleinen Zeichnungen. „X steht für „Xenosaurus?"" Chris grinste. „Wir sind unschlagbar in categories." Neben die Überschrift „The alphabet" hatte jemand mit Kugelschreiber eine Hand gezeichnet, die dem Betrachter den Mittelfinger entgegenstreckte. Chris folge Stephanies Blick auf die Schmiererei und zuckte mit den Schultern. „Auch das muss manchmal gesagt werden." „Und das funktioniert?" Chris mustere die alte Tafel. „Nicht wirklich. Es dauert ziemlich lang. Wir benutzen sie nur, wenn es nicht anders geht."
Stephanie lehnte sich zurück und sah zu Chris hoch, der noch immer vor dem Couchtisch stand. Endlich sah sie die Gelegenheit, die Frage zu stellen, die ihr am meisten unter den Nägeln brannte. „Und wie lang macht ihr das jetzt schon?" Chris warf Jeremy einen Blick zu, der reichte ihn an Stephanie weiter. „Ziemlich genau ein Jahr." Stephanie blickte ihn entgeistert an. „Ihr lebt seit einem Jahr zur Hälfte als Mensch und als Wolf?" Chris schlug einen relativierenden Tonfall an. „Naja...im Gunde genommen..." Stephanie ließ ihn nicht ausreden. „Ihr habt seit einem Jahr nicht miteinander gesprochen?" Sie war fassungslos. „Wir sprechen miteinander. Nur eben ein wenig zeitversetzt." Chris lächelte müde. „Man wird ein guter Zuhörer, merkt sich die Dinge, die man einem gesagt werden besser. Und antwortet, wenn man die Gelegenheit dazu hat." All das ließ für Stephanie nur eine logische Konsequenz zu. „Und wenn ich mitmachen würde?"
Chris und Jeremy sahen sie entgeistert an. „Steph bei allem Respekt, aber du hast keine Ahnung, worauf du dich da einlassen würdest." Stephanie hatte genug davon, sich wie ein unwissendes Kind zu fühlen. „Dann erzähl es mir! Zwei Drittel der Zeit menschlich zu sein ist besser als nur die Hälfte. Außerdem könntet ihr endlich wieder ein normales Gespräch führen. Ich muss mich ja nicht auf ewig verpflichten, nur solange ich hier bin. Und wenn eure Theorie mit den Geschwistern stimmt, dann..." Chris schnitt ihr das Wort ab. „Du weißt nicht, was du da sagst. Sich zu...verändern ist schmerzhaft. Auch nach einem Jahr noch. Dein Angebot ist sicherlich nobel, aber wir können dich da nicht..." „Aber du hast es auch für Jeremy getan! Und damals wusstest du nicht einmal, dass ihr Halbbrüder seid!" Einen Moment war es still. Stephanie hatte das Gefühl, einen Nerv getroffen zu haben. Die beiden blickten sich kurz an. Dann sprach Chris mit leiser Stimme weiter.
„Gekratzt zu werden verändert dich, Steph." Er blickte zu Boden. „Sobald du es einmal getan hast, wirst du eine Nacht im Monat zum Wolf. Egal in welchem Körper du gerade steckst." Stephanie hatte das Gefühl, ihre Augen müssten sich bald aus ihrem Schädel verabschieden, so weit hatte sie sie aufgerissen. „Eine Nacht im Monat? Wir reden hier aber nicht von..." Chris zog belustigt die Augenbrauen hoch. „Vollmond? Doch. Was soll ich sagen? Es ist eben ein guter alter Fluch. So wie Oma ihn früher immer gemacht hat." Jeremy stieß ein Schnauben aus.
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North is where the wind smells of pines
Hombres LoboOriginaltitel: Das inkohärente Gewusel, das sich eines Tages zu einem Plot verdichten könnte (working title) Liebe Leute auf Wattpad, ich werde gar nicht erst versuchen, so zu tun, als sei das hier viel mehr, als eine äußerst mittelmäßige Urban Fant...