Camping

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Chris hatte soeben eine bequeme Position gefunden. Nach Ewigkeiten des Umherwälzens und Gelenkknackens wäre er nun bereit gewesen über den feuchten, kalten Schlafsack, den pfeifenden Wind, das Dröhnen des Donners über dem Zelt und das Scharren etlicher Waldlebewesen, die sich an den spärlichen Vorräten gütlich tun wollten, hinwegzusehen und eine oder zwei Stunden des ersehnten Schlafs zu finden. „Ich muss mal raus..." „Das ist jetzt nicht dein Ernst! Du pennst mir hier seit Stunden einen vor und wenn ich kurz davor bin einzuschlafen, musst du raus?!" Jeremy wandte sich zu ihm um. Chris konnte sein Gesicht nur schemenhaft erkennen, doch er wusste auch so, dass blanker Hohn auf ihm zu lesen war. „Ich kann auch bleiben, aber dadurch wird es hier im Zelt nicht gemütlicher werden." Chris seufzte. „Wieso bin ich nochmal mitgekommen?" „Um eins mit der Natur zu werden." Jeremy legte so viel Pathos wie möglich in jedes Wort dieses Satzes. „Du bist ein Dämon. Ich habe irgendetwas verbrochen und man hat dich geschickt um mich für meine Taten zu bestrafen." Jeremy lachte leise. „Und ich werde nicht mal dafür bezahlt."

Während Jeremy sich lautstark aus seinem Schlafsack schälte, versuchte Chris seine soeben gefundene Position wieder einzunehmen. Er justierte seine Yogamatte und bemerkte einen Stein, der sich nun in seinen Rücken presste. Er stieß ein resigniertes Stöhnen aus und begann, sein Lager neu zu richten.

Gerade spürte er, wie ihn etwas zu überkommen begann, das man unter Umständen als Schlaf bezeichnen konnte, als der Reißverschluss des Zelteingangs in großer Eile aufgerissen wurde. Draußen atmete jemand schwer und fluchte jedes Mal laut, wenn sich der Mechanismus erneut verklemmte. Gerade wollte Chris zu einer Tirade über die gesundheitliche Signifikanz eines gesunden Schlafrhythmus ansetzen, da stürzte Jeremy neben ihn ins Zelt und begann, den Reißverschluss hektisch wieder zu schließen. Als Chris sich aufsetzte dauerte es einige Sekunden, bis er in der Dunkelheit etwas erkennen konnte. Vor ihm lag sein bester Freund, keuchend und hustend mit dreckbeschmierten Jeans. Dort, wo einst sein rechter Jackenärmel gewesen war, prangte nun ein klaffendes Loch im Fleece, dessen Ränder mit einer braunen Flüssigkeit getränkt zu sein schienen. Sofort war Chris hellwach und begann, die kläglichen Reste des Jackenstoffs zur Seite zu ziehen.

„Oh mein Gott, bist du okay? Bist du gestürzt?"Er begann in seinem Rucksack nach dem Verbandskasten zu suchen, den Jeremy noch an der Tankstelle für zwölf Dollar mitgenommen hatte. Während er die Plastikverpackung bearbeitete redete er weiter auf Jeremy ein. „Bist du sonst noch irgendwo verletzt?" Er holte sein Campingmesser aus der Scheide und begann, damit auf die Verpackung loszugehen. Als er sie erfolgreich entfernt hatte schnitt er den Jackenärmel an der Schulter ab und begutachtete die Wunde. Sie bestand aus mehreren, tiefen Löchern und in rhythmischen Abständen quoll Blut daraus hervor. Im Zwielicht der frühen Dämmerung konnte er erkennen, dass die Verletzungen einen Bogen zu bilden schienen.

„Scheiße, hat dich ein Tier angefallen?!" Während Chris versuchte, die Wunde mit Mullbinden zu bedecken und einen festen Verband anzulegen, beruhigte sich Jeremys Atmung allmählich. Er starrte noch einige Sekunden an die Zeltdecke und ließ seinen Kopf dann zur Seite rollen, sodass er Chris ansehen konnte. Zunächst wollte Chris etwas sagen. Etwa, dass sie jetzt ins nächste Krankenhaus fahren würden und Jeremy dort eine Tetanus- und Tollwutimpfung erhalten würde und dann schon alles in Ordnung wäre, doch etwas in Jeremys Blick lies in innehalten. Sein Freund sah ihn aus glasigen Augen an und hörte für einen Moment auf zu keuchen.

„Wolf."

Chris schwieg. Ja. Natürlich gab es in Kanada Wölfe, aber auch wenn sie abseits des Pfades campten, wieso sollte ein einzelner Wolf auf die Idee kommen einen Menschen anzufallen? Sicherlich hatte er tatsächlich Tollwut. Noch ein Grund mehr, bald eine Notaufnahme aufzusuchen. Und doch lag eine merkwürdige Finalität in Jeremys Worten, die er nicht richtig einzuordnen wusste.

„Sicher, dass es nicht einfach ein großer Hu..." Chris kam nicht mehr dazu, seine Theorie mit Jeremy zu teilen, denn plötzlich begann dieser sich ächzend zusammenzukrümmen. Sofort war Chris zu ihm gerückt. Jeremys gesamter Körper schien sich anzuspannen. Chris konnte die Venen auf seinem verletzten Arm hervortreten sehen, während heftige Schmerzen ihn zu durchfahren schienen. Panik machte sich in Chris breit. So etwas passierte nicht bei Tierbissen.

„Was ist los? Hat er dich sonst noch irgendwo erwischt? Hey! Mann, du musst mit mir reden! Das reicht, ich rufe einen Notarzt."Gerade als Chris sein Handy in der Hand hatte, begann Jeremy zu schreien. Das Geräusch ließ Chris herumfahren. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich die Zähne in Jeremys zum Schrei verzerrten Mund zu langen, dolchartigen Fängen verformten.

North is where the wind smells of pinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt