Normalität

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Als Stephanie das Bad wieder verließ, fühlte sie sich, als hätte sie etwa zwei Kilo an Schmutz und emotionalem Ballast in den Abfluss gespült. Sie hatte sich ein frisches T-Shirt und eine saubere Jeans aus ihrem Rucksack übergezogen und ihr sandfarbenes Haar zu einem Pferdeschwanz gebändigt. Auf ihre Strickjacke hatte sie nicht verzichten wollen, auch wenn sie die Befürchtung hatte, sie könnte vor Dreck bald ein Bewusstsein entwickeln und mit dem spärlichen Rest ihrer Kleidung durchbrennen. Der kratzige Stoff vermittelte ein Gefühl von Sicherheit, das Stephanie noch nicht bereit war, abzuwaschen.

Das Wohnzimmer empfing sie mit einem warmen Licht, das von der alten Deckenlampe mit dem vergilbten Schirm aus Papier ausgesandt wurde. Als er sie bemerkte blickte Jeremy zu ihr auf. Er war gerade dabei, zwei Sätze Besteck auf dem massiven Esstisch zu positionieren. Er hielt in der Bewegung inne und musterte sie sorgenvoll. Stephanie verschränkte die Arme vor der Brust und kam seiner Frage zuvor. „Ihr habt glaube ich ein Schädlingsproblem. Als ich im Bad war ist auf einmal so ein zotteliges, aufgelöstes Gör hereingestürmt und durchs Fenster verschwunden." Jeremys Miene hellte sich auf. „Das ist äußerst besorgniserregend. Vor allem weil unser Bad überhaupt keine Fenster hat." Stephanie schenkte ihm ein Lächeln, Jeremy erwiderte es. Aus der Küche stieg Stephanie der Duft von Tomaten und frischem Fisch in die Nase. Ihr Blick folgte ihrem Geruchssinn zum Herd, auf dem zwei Töpfe kleine Dampfwölkchen in die Luft pafften. „Spagetti frutti di mare." Sagte Jeremy verlegen. „Ich hoffe, du isst Fisch." Stephanie sah ihn überrascht an. „Wenn ich heute noch eine Bleibe finden will wird das aber ein wenig eng mit dem Abendessen." Jeremy schob weiter das Tischgedeck zurecht, als würde er damit rechnen, dass jeden Moment ein Restaurantkritiker durch die Tür stürmen könnte um seine Bewirtungsfähigkeiten zu bemängeln. „Ähm, was das angeht...Steph, es gibt eigentlich keinen Grund mehr, wieso du nicht hierbleiben solltest. Immerhin ist es das, wofür du hergekommen bist." Nach einer kurzen Pause fügte er mit einem verlegenen Schmunzeln hinzu „Außerdem waren wir uns nicht sicher, ob du es verkraften könntest, wenn wir dich jetzt vor die Türe setzen würden."

Entschuldigend blickte er sie an und wartete auf eine Antwort. Stephanie zögerte. „Ich kann mich doch nicht einfach hier bei euch einnisten...und außerdem..." „Ich schwöre dir, du würdest nicht unseren vollen, sozialen Terminkalender durcheinanderbringen." Stephanie musste grinsen. „Und auch, dass wir keine weiteren Leichen im Keller versteckt haben." Fügte er etwas leiser hinzu. „Du kannst dich auch an unserem Putzplan beteiligen, wenn du willst. Falls du ihn suchst, es ist der zerknitterte Zettel dahinten mit den vielen Morddrohungen." Stephanie lachte. Dann bemerkte sie eine Lücke in der Besetzung des Stücks. Sie sah sich im Raum um und rollte mit den Augen. „Chris, du kannst rauskommen, ich werde nicht in Ohnmacht fallen." Die Tür zum Schlafzimmer wurde aufgedrückt und der Kopf eines hellgrauen Wolfes lugte daran vorbei ins Wohnzimmer. Schuldbewusst legte er den Kopf schief.

„Okay. Also wenn das hier funktionieren soll müsst ihr aufhören, mich zu behandeln, als würde ich jeden Moment implodieren." Jeremy sah sie skeptisch an. Defensiv hob sie die Hände. „Ja, okay, ich gebe zu, ich war schon nah dran. Das ein oder andere Mal. Aber diese Dusche war äußerst wohltuend und jetzt bin ich wieder stabil." Sie blickte die beiden Anderen an. „Versprochen" fügte sie hinzu. Jeremy grinste sie über den Tisch hinweg an. „Das sollte sie auch besser, sie hat ja auch gerade mal zwei Stunden gedauert." Stephanie blickte ihn entsetzt an. „Ich war zwei Stunden da drin?"

Die kleine Reise ins Reich der Introspektion hatte sich für sie gerade mal wie eine halbe Stunde angefühlt. Höchstens. Jeremy wies sie mit seinem Blick Richtung Fenster. Draußen kämpfte eine kleine, altmodische Straßenlaterne als letzte Bastion verzweifelt gegen die Dunkelheit. Ihr goldener Glanz wurde von der nassen Straße reflektiert. Ein leichter Regenschauer trommelte rhythmisch gegen die Scheibe. „Ach du liebe Zeit." Entfuhr es ihr. „Hast du das gehört Chris? Sie flucht wie deine Großmutter." Das wurde von Chris mit einem Schnauben quittiert. „Du hast Recht, deine Großmutter hätte mehr Elan hineingelegt."

North is where the wind smells of pinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt