Eisen

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Eine Woche hatte Stephanie es ausgehalten. Es war gar nicht so schwer gewesen. Im Grunde hatte sie einfach weitergemacht, wie bisher. Jeremy und Chris hatten sich an ihre unausgesprochene Abmachung gehalten. So lange sie nichts sagte, taten sie, was sie immer taten. Und dennoch merkte sie es manchmal. Darin wie sie sie ansahen. Oder darin wie sie sich gegenseitig ansahen, wenn sie dachten sie würde es nicht bemerken.

Sie konnte es den Beiden nicht übelnehmen, doch hin und wieder störte es sie, wenn sie spürte, wie ihre sorgenvollen Blicke sich in ihren Rücken brannten. Jeden Abend hatte sie den Mond dabei beobachtet, wie er immer größere Stücke des Himmels an sich riss. Natürlich hatte sie sich nicht nur auf ihr dürftiges Wissen über die Dauer des Mondzyklus verlassen wollen, also hatte sie im Internet einen Mondkalender konsultiert. Seitdem hatte sie 3 Spammails erhalten, in denen man ihr eine private Tarotkartenlegung anbot und ihr wurden stets Shoppingangebote für Kristalle und Bücher über das Okkulte angezeigt. Ihr persönlicher Favorit war „Amethyst, Quarz und Lapislazuli – Steine für eine gesunde Darmflora". Leider hatte ihre Recherche abgesehen davon nicht viel erbracht. Ihre Schätzung war korrekt gewesen. Vollmond war diesen Samstag. In drei Tagen. Seufzend rührte sie in ihren Cornflakes.

Chris blickte von seinem Laptop auf und musterte sie von der anderen Seite des Tisches aus. Er hob die Augenbrauen. Stephanie war es wirklich leid, ständig unter Generalverdacht zu stehen, einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Sie hatte allgemein das Gefühl, ihre Beziehung zu Chris und Jeremy bestand momentan ausschließlich daraus, dass die Beiden sich um sie sorgten und sie ihnen Anlass zur Sorge gab. Bei diesem Gedanken musste sie erneut seufzen. „Was? Darf ich jetzt nicht mal mehr theatralisch seufzen?" Chris hob entschuldigend die Hände. „Nein, nein. Tu dir keinen Zwang an. Die Welt ist deine Bühne." Jeremy, der die Szene vom Sofa aus beobachtet hatte, hob den Kopf und sah Chris bedeutungsvoll an. Stephanie schwante Übles. Chris blickte Jeremy kurz fragend an, dann schien ihm ein Licht aufzugehen. Er holte tief Luft. Stephanie wusste schon jetzt, dass sie keine Lust auf dieses Gespräch hatte. Chris biss sich auf die Lippe. Er schien zu überlegen, wie er anfangen sollte.

„Steph, bestimmt weißt du, dass diesen Samstag Vollmond ist." Stephanie sah von ihren Cornflakes zu ihm auf. „Jetzt, wo du es erwähnst..." Chris bemühte sich weiterhin um einen diplomatischen Ton. „Wenn der Vollmond auf ein Wochenende fällt fahren wir gewöhnlich nach Norden und campen dort die zwei Nächte." Stephanie konnte es nicht fassen. Wollten die beiden sie über das Wochenende hier allein lassen? Betont desinteressiert stocherte sie in ihrer Schüssel herum.

„Euch ist die Lust am Camping nicht vergangen?" Chris runzelte verwundert die Stirn. „Nein." Er klang noch immer nicht gereizt. Stephanie war ein klein wenig beeindruckt. „Camping gehört zu den wenigen Dingen, die mehr Spaß machen, wenn man die Hälfte der Zeit in Wolf ist." Schön. Wunderbar. Sollten sie doch ihren Ausflug machen. Dann würde Stephanie eben allein hier darauf warten, dass ihre Entscheidungen sie einholten. Das war ihr ohnehin lieber. „Ist okay. Fahrt ruhig. Mir macht es nichts aus." Stephanie stach jetzt ein wenig zu enthusiastisch auf den kläglichen, aufgeweichten Rest ihres Frühstücks ein. Chris blickte sie einen Moment verwirrt an. „Was...? Nein! Steph, wir wollten dich fragen, ob du darauf Lust hast! Wenn du nicht willst, bleiben wir hier. Wir dachten es wäre einfacher für dich, wenn du nicht in dieser Wohnung eingesperrt bist." Stephanie ließ den Löffel klirrend in ihre Schüssel fallen. Sie wusste nicht genau, wo die Wut herkam, die sie auf einmal verspürte und eine kleine, rationale Stimme in ihrem Innern versuchte sie verzweifelt daran zu erinnern, dass Chris nichts dafürkonnte, doch sie konnte diese verdammte Stimme nicht mehr hören. Sie konnte auch Chris' verdammte Stimme nicht mehr hören. Sie fuhr ihn an.

„Ja klar! Lass und das tun! Das wird sicher lustig! Wir müssen nur darauf achten, genug rohe Steaks für alle einzupacken! Oder Wir nehmen auf dem Highway einfach ein Reh mit!" Sie war von ihrem Stuhl aufgesprungen. Chris blickte sie nur traurig an. Sie wollte aber nicht mehr traurig angeguckt werden! Sie wollte keine Trauer mehr! Sie wollte Wut. Wut war die ältere, rebellische Schwester von Trauer, die gerade ihren ersten Freund hatte und sich von zuhause wegschlich um sich heimlich ein Tattoo stechen zu lassen. Sie brauchte jetzt Wut. Wut hatte ihr Leben unter Kontrolle. Sie stürmte in die Küche und holte einen Eimer und Putzlappen. Sie würde den verdammten Blutgeruch aus dieser Wohnung waschen und wenn es das Letzte war, das sie tat.

Etwa fünf Minuten lang hatte Chris sie sanft gebeten, sich zu beruhigen. Dann hatte er aufgegeben. Er und Jeremy hatten sie zerknirscht dabei beobachtet, wie sie jeden Zentimeter des Bodens ausgiebig geschrubbt hatte. Auf den Knien war sie über den Fußboden gekrochen und hatte sich mit ihrem gesamten Gewicht gegen das Parkett gestemmt, doch jedes Mal, wenn sie glaubte, alles erwischt zu haben, stieg ihr der metallische Geruch wieder in die Nase. Jetzt wusste sie, wie sich Lady MacBeth gefühlt haben musste. Alle Putzmittel Torontos könnten diese kleine Wohnung nicht wohlriechend machen. Dann entdeckte sie ihn. Den kleinen Spritzer Blut an der Decke. Er musste dort hingelangt sein, als die das Rohr aus Chris' Rücken gezogen hatte. Sein letztes Stündlein hatte geschlagen.

Entschlossen griff sie sich einen Stuhl vom Küchentisch und stellte ihn unter dem Fleck ab. Sie stieg auf die Sitzfläche und versuchte, mit dem Lappen die Decke zu erreichen. Chris' besorgte Stimme drang vom Tisch zu ihr herüber. „Steph komm da runter. Du verletzt dich noch." Sie bemerkte ihn kaum. „Steph. Komm schon. Bitte." Ein kleines Stückchen noch. Sie war fast dort. „Steph!!" Der Stuhl unter ihr kippte zur Seite und riss sie mit sich Richtung Fußboden. Sie fing sich mit ihrer rechten Hand ab. Ein übelerregendes Knirschen war zu hören, dann fuhr ein stechender Schmerz durch ihren Arm. Sie kniete am Boden und hielt ihre rechte Hand. Sie konnte spüren, wie ihr Puls in ihrem Handgelenk pochte. Mit jedem Schlag wurden die Schmerzen etwas stärker. Sie kniff gequält die Augen zusammen.

Als sie sie wieder aufschlug waren Chris und Jeremy bei ihr. Jeder auf einer Seite. „Alles in Ordnung?" Chris' sanfte Stimme legte sich wie eine kühlende Salbe auf ihren schmerzenden Arm. Allgemein mochte sie Chris' Stimme sehr gern. Wieso war sie ihn überhaupt so angegangen? Sie musste aufhören, zu versuchen, hiermit allein klar zu kommen. Sie blickte die Beiden mit schmerzverzerrter Miene an. Aus ihren Gesichtern sprachen Sorge und Mitgefühl. „Ich glaube, ich würde jetzt gern darüber reden."

North is where the wind smells of pinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt