Objektive Betrachtung

23 3 0
                                    

Stephanie hatte sich inzwischen seit 36 Stunden nicht mehr die Zähne geputzt, und ebenso lange nicht mehr geduscht oder sich die Haare gebürstet. Aber sie hatte ihre Stiefel wieder angezogen, und sich daher für gesellschaftsfähig befunden, also hatte sie sich in ein Café gesetzt und das ultimative Getränk gegen psychische Belastung bestellt; heiße Schokolade. Abgesehen davon hatte sie bereits große Teile ihrer To-do Liste für den heutigen Tag abgearbeitet; sie hatte noch ein wenig vor sich hin geweint, dann hatte sie ohne zu blinzeln ins Leere gestarrt. Diesen Zyklus hatte sie einige Tassen lang wiederholt. Danach war sie zum nächsten Schritt übergegangen; der Rationalisierung.

Vielleicht hatte sie sich einfach getäuscht. Es war völlig plausibel, dass zwei Studenten zwei Wölfe in ihrer Wohnung hielten und einer davon Gesetzestexte lesen konnte. Jeder brauchte schließlich Hobbys. Ihre zwei Halbbrüder waren keine...ja...was eigentlich? An diesem Punkt war sie dann meist wieder zu Schritt eins oder zwei zurückgekehrt. Bei ihrer fünften Tasse näherte sich eine Gestalt der Glastüre und, als wäre nichts gewesen, schlenderte Chris in den Laden. Er trug ein Flanellhemd mit Jeans und Sneakers und grüßte das Mädchen hinter der Theke mit einem Kopfnicken. Kurz hatte Stephanie gehofft, er hätte sie vielleicht übersehen, doch er beschrieb einen Bogen und steuerte geradewegs auf ihren Tisch zu. Das Einzige was sie tat, war, ihn mit weit aufgerissenen Augen anzustarren.

Er setzte ein herzallerliebstes Lächeln auf und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Alles war sie tun konnte, war seine Dreistigkeit mit noch intensiverem Anstarren zu vergüten. „Wie hast du mich gefunden?" brachte sie hervor. Chris lehnte sich betont lässig auf seinem Stuhl zurück. „Durch den Peilsender den wir dir eingesetzt haben, als du geschlafen hast." Sie wollte lieber auf derart offensichtlichen Sarkasmus hereinfallen, als fälschlicherweise anzunehmen, man hätte ihr keinen Peilsender verpasst.

Chris holte sein Handy aus seiner Hosentasche und drehte den Bildschirm zu ihr. „Das war aber auch ein guter Hinweis." Auf dem Display war ein whatsapp-chat mit dem Namen „Coffeeshop-underlings" geöffnet. Bei der letzten Nachricht handelte es sich um ein Bild mit einem Text darunter. Das Foto zeigte sie in einer der zahlreichen Phasen des Starrens ohne zu Blinzeln. Der Text lautete „Hier hat grad eine nen Nervenzusammenbruch. Lol." Chris steckte das Handy wieder ein. „Jeremy hat dir glaube ich erzählt, dass ich in einem Coffeeshop arbeite. Du hast es geschafft, genau dorthin zu flüchten." Innerlich gab sich Stephanie eine schallende Ohrfeige. Sie hätte in jeden anderen Laden gehen können. Oder mit dem Bus zumindest in einen anderen Stadtteil fahren. Äußerlich starrte sie Chris einfach weiterhin entgeistert an. Chris seufzte. Er tauschte seine lässige Position gegen eine angespannte Haltung. Deutlich leiser sprach er weiter.

„Okay, ich weiß, ich habe nicht wirklich das Recht, irgendetwas von dir zu fordern und ich kann dir auch keinen Grund nennen, wieso du mir vertrauen solltest, aber es wäre nett, wenn du uns eine Chance geben würdest, dir alles zu erklären." Stephanie beendete den Satz mental für ihn: anstatt zur Polizei oder zum Militär zu gehen. Sie murmelte eine unverständliche Antwort. „Wie bitte?" „Warst du in einem früheren Leben vielleicht Motivationsredner?" Chris lachte. Ein Teil der Anspannung schien von ihm abzufallen. Stephanie seufzte gereizt. „Hey! So leicht kommst du mir nicht davon! Ich weiß nicht einmal, wieso ich sauer auf euch bin, aber ich weiß, dass ich sauer bin. Und verängstigt." Chris wurde wieder ernst. „Und das solltest du auch!" Stephanie zuckte zusammen. „Warte. Schlechte Wortwahl. Ich meine du hast allen Grund dazu, sauer zu sein. Nicht verängstigt. Wir haben versucht, dich von uns fernzuhalten, so wie wir jeden auf Distanz halten, aus Gründen die dir jetzt klar sein werden. Aber wir hatten nicht das Recht dazu. Du bist den ganzen Weg hergekommen und du solltest die Möglichkeit haben, deine eigenen Schlüsse über deine Herkunft zu ziehen. Und wir haben dich angelogen. Wenn du nicht nachts im Treppenhaus gewesen wärst, hätte ich dich vermutlich nie wiedergesehen und das war nicht fair von mir."

Stephanie lächelte ein wenig in sich hinein. Das schien Chris zu beunruhigen. „Wieso lächelst du so selig?" „Du hast mir gerade gegeben, was ich die ganze Zeit dringend gebraucht hätte." „Was denn?" Sie funkelte ihn listig an. „Eine Verhandlungsbasis." Chris' Augen weiteten sich überrascht. Jetzt war Stephanie es, die sich betont lässig in ihrem Stuhl zurücklehnte. „Wenn ich mitkomme, dann beantwortet ihr mir jede Frage." Chris war sichtlich unzufrieden mit der Entwicklung der Dinge. „Naja, jede..." „Jede!" „Okay, jede" gab er sich geschlagen. „Im Gegenzug höre ich mir an, was ihr zu sagen habt. Und ziehe erst meine Schlüsse, wenn ich alles gehört habe." Chris' Blick wurde weicher. „Danke." „Ababab!" Sie hob mahnend den Zeigefinger. „Ich bin noch nicht fertig. Außerdem seid ihr zu einhundert Prozent ehrlich zu mir. Keine Ausflüchte." Chris nickte. „Und meine letzte Bedingung lautet; die fünf Tassen Anti-Trauma-Kakao gibst du mir aus. Immerhin bist du der Grund für ihre Notwendigkeit." Jetzt lachte Chris. Jegliche Anspannung war aus seinem Blick gewichen. Jegliche, bis auf das Quäntchen Anspannung, dass sie immer hinter seinen Augen verbarg. „Okay, deal."

North is where the wind smells of pinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt