Als sie die Wohnung betreten hatten, war es Stephanie vorgekommen, als sei sie nach einer langen Reise wieder nachhause zurückgekehrt. Alles, was sie in den letzten Tagen belastet hatte, war von ihr abgefallen und sie hatte zufrieden festgestellt, dass sich ihre verbesserte Stimmung auch auf Chris und Jeremy übertragen hatte. Sie hatten einen unbeschwerten Abend auf der Couch verbracht, sich schlechte, deutsche Komödien angesehen, die Stephanie für sie ausgesucht hatte und waren dann alle todmüde ins Bett gefallen. Einen Abend hatte das Universum Stephanie gegönnt. Dann hatte es die Ruhe gelangweilt.
Schon am Montag beim Frühstück war es Stephanie aufgefallen. Jeremy hatte am Küchentisch auf seinen Laptop gestarrt und sich die Haare gerauft. „Kannst du mir verraten, wie ich vier Abendkurse ableisten soll, wenn die Woche für mich höchstens drei Abende hat?" Er stieß geräuschvoll die Luft aus. „Ich bin geliefert." Unwillig hatte Stephanie an ihr eigenes Semester gedacht, das in zwei Wochen starten würde. Die Vorstellung, dann wieder in Berlin in ihrer WG zu sitzen und über den Putzplan zu diskutieren kam ihr vollkommen absurd vor. Sie hatte den Gedanken, wieder in ihr altes Leben zurückzukehren schon eine Weile vor sich hergeschoben und jetzt, so schien es, holte er sie endlich ein. Stephanie kaute auf ihrem Toast herum, als Jeremys Handy auf dem Tisch vibrierte. Er betrachtete zunächst verwirrt das Display, dann weiteten sich seine Augen in Unglauben. Er sah auf. „Chris?" Chris' Kopf erschien in der Tür zum Schlafzimmer. Er sah Jeremy fragend an. Jeremy antwortete leise. „Coach Stevenson ist gestorben." Chris kam mit geweitetem Blick ins Wohnzimmer. „Herzinfarkt. Mit gerade mal dreiundfünfzig." Sagte er eher zu sich selbst. Er wandte sich zu Chris um. „Die Beerdigung ist schon morgen." Jeremy verschränkte die Arme vor der Brust und stieß geräuschvoll die Luft aus.
Stephanie fühlte sich äußerst unwohl in der Situation. Sie wusste nicht, wie sie angemessen reagieren sollte. Jeremy bemerkte ihren Blick. „Coach Stevenson war der Trainer unserer Highschool-Eishockey-Mannschaft." Sein Blick glitt in die Ferne. „Er hat sich immer für all seine Schützlinge eingesetzt, hat mehreren Jungs aus schwierigen Verhältnissen geholfen, Stipendien für gute Universitäten zu bekommen." Er sah Stephanie an. „Chris und ich haben jahrelang bei ihm trainiert. Eigentlich haben wir uns so angefreundet." Ein wehmütiges Lächeln huschte über seine Lippen. „Keiner hat mich so farbenfroh beschimpft, wie Chris, wenn ich einen schlechten Job im Tor gemacht habe." Chris hatte sich neben den Tisch gesetzt und seinen Blick auf den Boden gleiten lassen. Jetzt hob er ihn wieder an und traf den von Jeremy. Nach einem Moment, in dem sie sich nur ansahen, nickte Jeremy. „Ja, wir müssen da hin. Das sind wir ihm schuldig." Er hielt inne und sah Stephanie an. „Ja! Natürlich geht ihr! Die Couch und ich, wir kommen schon klar." Jeremy musterte sie nachdenklich. „Wir müssten heute losfahren und würden erst übermorgen wiederkommen. Wir werden dich nicht zwei Tage als Wolf hier zurücklassen." Sein Blick verriet, dass er einen Entschluss fasste. „Ich gehe als Wolf." Stephanie sah ihn entgeistert an. „Was?" Er klappte seinen Laptop zu. „Wir haben einen Plan für solche Fälle."
Direkt nach dem Frühstück hatte Jeremy begonnen, zu packen. Chris schien sehr unzufrieden mit der Rollenverteilung zu sein, doch Jeremy hatte keinerlei Widerrede geduldet. „Du hattest immer ein besseres Verhältnis zu ihm." Er hatte zerknirscht gelächelt. „Ich war eigentlich nur in der Mannschaft, weil Dad wollte, dass ich einen Mannschaftssport betreibe." Nachdem er ein akzeptables, schwarzes Sakko und eine Anzughose in Chris' Schrank aufgetrieben hatte, war er wieder ins Wohnzimmer gekommen, hatte sich vor das Regal unter dem Fernseher gekniet und begonnen, zwischen den Stapeln aus DVD's zu wühlen. Stephanie saß noch am Küchentisch. Sie hatte sich seit dem Frühstück nicht bewegt und Jeremy beobachtet. Jetzt zog er ein Stück abgegriffenes Leder aus einem der Fächer hervor und betrachtete es. Stephanie brauchte einen Moment, um es zu identifizieren. Es handelte sich um eine alte, lederne Hundeleine. Verstört blickte sie Jeremy an. „Nicht wirklich." Er zuckte betreten die Schultern. „Es erfüllt seinen Zweck. Was eine Leine hat ist ein großer Hund und kein Wolf." Stephanie stellte sich vor, an einer Leine an all ihren Bekannten aus der Schule vorbeilaufen zu müssen. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken. Jeremy las ihren Blick. „Coach Stevenson hat es verdient." Er lächelte traurig. Dann steckte er die Leine in seine Tasche.
Als Jeremy mit seiner und Chris' Tasche an der Wohnungstür stand, hielt er inne und wandte sich zu Stephanie um, die betreten im Durchgang zur Küche an der Wand lehnte. Sie trug noch ihren Pyjama und hatte ihre Arme um sich geschlungen. Mei ihrem Anblick huschte ein müdes Lächeln über Jeremy Gesicht. „Wir haben noch Tiefkühlpizza da, aber wenn du etwas Genießbares essen möchtest, würde ich vorschlagen du siehst noch bei Whole Foods vorbei." Er musterte sie belustigt. „Oder weißt du was, geh vielleicht einfach essen." Stephanie stieß ein kurzes Lachen aus. „Wie weit ist es bis Portland?" „Etwa zehn Stunden, wenn wir ohne Pause fahren würden." Sie sah Jeremy traurig an. „Hey, es tut mir leid wegen eurem Coach." Jeremy lächelte traurig. „Danke." Er musterte sie noch einen Moment lang nachdenklich, dann war er im Treppenhaus verschwunden. Leise fiel die Tür hinter ihm ins Schloss und Stephanie war allein.
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North is where the wind smells of pines
WerwolfOriginaltitel: Das inkohärente Gewusel, das sich eines Tages zu einem Plot verdichten könnte (working title) Liebe Leute auf Wattpad, ich werde gar nicht erst versuchen, so zu tun, als sei das hier viel mehr, als eine äußerst mittelmäßige Urban Fant...