Charakter

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Stephanie wurde vom Klingeln ihres Handys geweckt. Lauthals verkündete ABBA, dass sie ihr eigenes Waterloo erlebten. Sie hatte auf dem Leder des Sofas gedöst, das sich in der Mittagssonne erwärmte. Sie hob den Kopf und sah fragend zu Chris herüber, der entspannt am anderen Ende der Couch saß und sich in ein Lehrbuch vertieft hatte. Chris griff nach dem Handy und sah auf das Display. Er zog belustigt die Augenbrauen hoch. „Da steht >Mutter<. Die deutsche Sprache macht mir Angst." Stephanie verdrehte dramatisch die Augen. Einen letzten Sonnenstrahl gönnte sie sich noch, dann griff sie nach der Feder und zog leicht daran. Es war nicht schwer. Sie war gerade völlig entspannt. Sie blieb einfach liegen und versuchte, sich durch ihre Gedanken abzulenken.

Sie hatte noch eine Nacht im Krankenhaus verbringen müssen, bevor man sich sicher gewesen war, dass das Gift der Schlange sie verlassen und keinen weiteren Schaden angerichtet hatte. Sie alle hatten eine Weile gebraucht, um das Geschehene richtig zu verarbeiten. Immer wieder erwischten sie sich dabei, wie sie über ganz alltägliche Dinge stolperten, wie gemeinsam zu Abend essen zu können, oder gepflegt zu dritt darüber zu streiten, wer vergessen hatte, die Butter wieder in den Kühlschrank zu stellen.

Während sie ihre neuen Freiheiten erkundet hatten, hatten sie alle gemerkt, dass sich die kleine Sprungfeder langsam aber stetig gedehnt hatte. Für Stephanie war es bereits am dritten Tag unangenehm gewesen. Sie hatte gespürt, dass sie sich zunehmend darauf konzentrieren musste, sie festzuhalten, oder dass starke Emotionen drohten, ihr die Kontrolle zu nehmen. Sie hatte sich also zähneknirschend für vier Stunden verwandelt. Danach war sämtliche Spannung verschwunden gewesen. Für Jeremy war es am vierten Tag so weit gewesen. Chris hatte herausfinden wollen, wie lang es maximal auszuhalten war, doch als ihm am fünften Tag bei einer hitzigen Debatte mit Jeremy über die Genießbarkeit von French Dressing spontan Fangzähne gewachsen waren, hatte er nachgegeben.

Stephanie hatte inzwischen derart niedrige Erwartungen an ihr Leben gestellt, dass sie ein Verhältnis von vier zu zweiundsiebzig Stunden für ein Geschenk des Himmels hielt. Wie es Jeremy und Chris erst gehen musste. Ihre Zeit als Mensch hatte sich auf einen Schlag verzehnfacht. Stephanie beobachtete sie gern dabei, wie ihnen eine wichtige Frage einfiel und sie sich umwanden um nach einer Buchstabentafel zu greifen, nur um schmunzelnd inne zu halten und ihre Frage einfach so zu stellen. Oder wie sie den Tisch für zwei Personen deckten und im Nachhinein noch ein drittes Gedeck dazustellten. Sie strahlte noch immer vor Glück, wenn sie daran dachte. So auch jetzt. Chris musterte sie, als wäre sie aus einer Anstalt entkommen.

Sie schmunzelte und nahm Chris das Handy aus der Hand. Sie drückte auf >Wahlwiederholung< und wartete auf das tiefe, sonore Tuten, das ihr verriet, dass das Handy ihrer Mutter auf der anderen Seite des Atlantiks gerade klingelte. „Hallo?" meldete sich die Stimme ihrer Mutter. Stephanies Brust zog sich zusammen. Sie hatte sie schon ewig nicht mehr gehört. „Hi! Was gibt es denn?" brachte sie ein wenig zittrig hervor. Sie hörte, wie ein Schlüssel in der Tür gedreht wurde. Wenige Momente später steckte Jeremy seinen Kopf aus dem Flur ins Wohnzimmer. „Ich wollte nur sichergehen, dass du auch rechtzeitig zum Flughafen fährst! Nicht, dass du den Flieger noch verpasst." Ihre Mutter zögerte. „Ist alles in Ordnung bei dir?" Stephanie spürte ein Ziehen über ihren Augen. So kündigte sich bei ihr stets an, dass sie weinen musste. Sie zog eilig die Nase hoch und nahm Haltung an, obwohl ihre Mutter sie nicht sehen konnte. „Alles okay. Danke für die Erinnerung." Auf Jeremys Gesicht breitete sich unterdessen ein Grinsen aus. Er kam mit einer braunen Tüte in der Hand ins Wohnzimmer und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hab einen guten Flug! Wir vermissen dich." Sie lächelte und flüsterte. „Ich vermisse euch auch." Dann legte sie auf. Einen Moment starrten die beiden sie nur an. „Was?" fragte Stephanie lachend, während ihre Tränen sich wieder in die Drüsen verkrochen. Chris fand als erstes eine Antwort. „Du klingst auf Deutsch noch merkwürdiger als auf Englisch." Sie lachte.

Stephanie wies auf die Tüte, die Jeremy noch immer in der Hand hielt. „Und was ist das?" Jeremy, der sie gerade noch lächelnd gemustert hatte, betrachtete das Stück Papier in seiner Hand, als sehe er es zum ersten Mal. „Oh! Ja! Ich dachte mir, da die letzte Landung unter unglücklichen Umständen zerstört worden ist..." Er reichte ihr die Tüte. Neugierig spähte sie hinein. „Nein!" Rief sie glücklich. Vom Boden der Verpackung strahlten sie fünf kleine Quader aus Schichten von Schokolade und Vanillecreme an. „Nanaimo Bars!" Sie lachte. „Ich akzeptiere dein großzügiges Geschenk." Jeremy vollführte eine kleine Verbeugung und grinste. Dann wurde sein Blick auf einmal ernst. „Steph, bist du sicher, dass du zuhause zurechtkommst?"

Stephanie schmunzelte. „Naja aus meiner WG werde ich vermutlich ausziehen müssen. Aber was ist schon so ein kleiner Kratzer im Selbstwertgefühl, wenn man dafür mit einundzwanzig wieder bei seinen Eltern einziehen darf?" Chris lachte, dann lächelte er sanft. „Ich habe den Verdacht, dass du ganz froh darum bist, deine Familie wieder öfter zu sehen." Stephanie fühlte sich ein wenig ertappt. War sie wirklich so leicht zu durchschauen? Chris las ihren Blick. „Nenn es Geschwisterintuition." Stephanie lachte. „Niemals." Jeremy, der bis gerade eben selig geschmunzelt hatte, blickte auf die Küchenuhr und dann betreten zu Boden. „Wir sollten losfahren." Stephanie stieß geräuschvoll die Luft aus und grinste schief. „Wenn Chris fährt, dann schon." Chris schnaubte empört. „Ich bitte dich, ich bin eins mit der Straße." Stephanie grinste. „Überfahrene Waschbären sind auch eins mit der Straße. Shotgun übrigens!" Chris sah sie überrascht an. Dann Jeremy. Er lächelte in sich hinein.

Die Beiden waren bereits vorgegangen um das Auto zu holen. Chris hatte es sich nicht nehmen lassen, ihren Rucksack schon mitzunehmen. Daher blieb für sie nichts zu tun, als sich wehmütig in der Wohnung umzusehen. Sie sah noch beinahe so aus, wie bei ihrer Ankunft. Bis auf die großen, unförmigen Spielkarten, die jemand auf den Couchtisch gemalt hatte, doch sie hatte dennoch vollkommen ihren Charakter verändert.

Die Couch war nicht mehr das leicht mitgenommene, braune Ledersofa, sondern der Ort an dem sie ihre erste Nacht hier geschlafen hatte. Der Ort an dem sie gemeinsame Abende vor dem Fernseher verbracht hatten, wo Chris ihr gesagt hatte, dass sie immer noch sie selbst war, egal ob als Wolf, oder als Mensch. Wo er die letzten Nächte geschlafen hatte, weil er sich geweigert hatte, ihr ihr Zimmer wegzunehmen. Der Ort, an dem sie in Jeremys Armen gestorben war. Das große Fenster war keine leicht schlierige, architektonische Eigenwilligkeit mehr, sondern ihr gemeinsames Portal zur Außenwelt. Ihre Warte über dem Treiben der Menschen in der Stadt. Sie seufzte. Sie musste aufhören so zu denken, oder sie würde wieder anfangen, zu weinen. Sie blickte an die Decke und lachte.

Noch immer starrte ihr das kaputte Rohr entgegen. Der Handwerker hatte sie inzwischen kontaktiert, um ihnen mitzuteilen, dass sich die Lieferung der Ersatzteile verzögern würde. Passend zum Osterfest hatte Chris einen kleinen, weißen Bommel und zwei kleine Pfoten aus Stoff daran befestigt, sodass es so aussah, als würde ein Kaninchen gerade in dem Rohr verschwinden. Ihr Blick fiel auf das Bild über dem Sofa. Sie trat davor und betrachtete den ruhigen Kanal. Sie stieg auf die Polster, um sich Jeremys Signatur genau ansehen zu können. Das J und das M waren miteinander in einer innigen Umarmung verwoben, sodass sie beinahe miteinander verschmolzen. Sie hielt einen Moment inne und lächelte.

Schließlich drapierte sie noch auf dem Sofa, woran sie in den letzten paar Tagen gearbeitet hatte. Seufzend betrachtete sie den Stoff ihrer braunen Strickjacke, den sie zum Bezug für ein kleines, weiches Kissen umfunktioniert hatte. Sie liebte diese Jacke heiß und innig, doch sie hatte in den letzten Wochen sehr viel durchgemacht und nicht alle Erinnerungen, die sie nun mit ihr verband waren gut. Sie konnte mit ihrer Mutter eine neue Jacke stricken und so hätten Jeremy und Chris einen physischen Beweis für ihre Anwesenheit. Nur für den Fall, dass es ihnen eines Tages vorkommen könnte, wie ein Fiebertraum. Stephanie könnte es gut nachvollziehen. Ein letztes Mal sah sie aus dem Fenster auf die Straße. Draußen waren die Laternen aus und die warme Mittagssonne brachte die roten Backsteine der Gebäude zum Glühen. Ein kleiner, altersschwacher Opel fuhr geräuschvoll die Straße entlang und blieb vor dem Fenster stehen. Stephanie lächelte und wandte sich zum Gehen.

North is where the wind smells of pinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt