Blick nach innen

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Chris warf einen verstohlenen Blick über die Schulter. Jeremy wirkte, als würde er vor Gericht einen Mord gestehen. Er war schon immer derart charmant gewesen. Chris erinnerte sich an den Abend, bevor Stephanie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Jeremy hatte im Schneidersitzt auf dem Sofa gesessen, an der Stelle, an der Stephanie gelegen hatte, und nachdenklich an die Wand gestarrt. Chris hatte am Küchentisch an seinem Laptop gearbeitet und all ihre Kalender und Pläne gelöscht. Irgendwann hatte er es nicht mehr ausgehalten. „Wenn ich schon vorher so ein guter Therapeut war, stell dir vor was ich erst bewirke, wenn ich tatsächlich antworten kann!" Jeremy hatte gelacht und sich verlegen die Haare gerauft. „Seitdem ich weiß, dass ich nicht mit euch verwandt bin..." er hatte geräuschvoll die Luft ausgestoßen und Chris eindringlich angeblickt. „Stephanie wäre gestern fast gestorben. Hier. Auf dieser Couch. Und ich hätte nichts dagegen tun können."

Chris hatte freudlos gelacht. „Was mich am Meisten stört, ist, dass ich es nicht antizipiert habe. Natürlich hat sie das getan. Ich hätte es genauso gemacht." Jeremy hatte wieder nachdenklich die Wand gemustert. Dann hatte er den Kopf geschüttelt. „Nein. Das ist es nicht..." Er hatte zerknirscht gelächelt. „Sie hätte irgendwie einen Weg gefunden, uns zu überlisten." Dann endlich war bei Chris der Groschen gefallen. Wie Jeremy sich verhalten hatte, nachdem er erfahren hatte, dass er doch der Sohn seines Vaters war. Chris hatte es darauf geschoben, dass er zum zweiten Mal in kurzer Zeit seine Herkunft hinterfragen musste. Dass er einfach überrumpelt war, durch die Beerdigung und den Abend bei seinen Eltern. Doch das war nicht der Grund. Er sah etwas Anderes jetzt mit anderen Augen. Jemand anderen. Chris hatte diabolisch gegrinst. „Du magst sie." Jeremy hatte sich mit geweitetem Blick zu ihm umgewandt. Er hatte ausgesehen wie ein Schuljunge, den seine Lehrerin beim Abschreiben erwischt hatte.

Chris musste bei dem Gedanken auch jetzt noch schmunzeln. Er hatte Jeremy geraten, vor dem Tag ihrer Abreise einen günstigen Moment abzupassen, doch Jeremy hatte es weiter und weiter aufgeschoben. Es war einfach herzallerliebst. Chris beobachtete, wie Jeremy verzweifelt versuchte, nicht wie ein nervöses Wrack zu wirken. Er rieb sich verlegen mit der einen Hand über den Nacken und hatte die andere fest mit dem Bändel seines Hoodies verknotet. Aufmerksam achtete Chris auf Stephanie. Zunächst hatte sie ihn nur perplex gemustert, dann hatte sie die Arme vor der Brust verschränkt und eine abwartende Haltung eingenommen. Ursprünglich hatte Chris das Sorgen bereitet, doch dann hatte er die Freude gesehen, die sich in ihren Blick geschlichen hatte. Das kleine Zucken in ihrem Mundwinkel. Chris konnte sie nichts vormachen. Und er ihr nicht. Als Jeremy geendet hatte, sah sie ihn einen Moment lang prüfend an. Sie war wirklich die Ausgeburt des Bösen. Dann lächelte sie, wie sie es immer tat, mit dem ganzen Gesicht, und antwortete. Nur ein paar Worte. Schließlich grinste sie Chris noch einmal an und winkte ihm zu. Er winkte grinsend zurück. Sie schnappte sich ihren Rucksack, schob sich den verbleibenden Riemen über die Schulter und rannte in den Gang zum Check in. Dann war sie verschwunden. Jeremy blickte ihr blinzelnd hinterher.

„Und?" Chris musterte Jeremy besorgt von der Seite. Der wandte sich zu ihm um und lächelte schief.

North is where the wind smells of pinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt