Nächtliche Vergebung

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Jedes verdammte Motel der Gegend. Stephanie hatte sie alle angerufen. Nicht eines hatte ein Zimmer für sie. Langsam hatte es ihr gedämmert, dass sie auf einen Stall würde ausweichen müssen, nur, dass der Stall in nicht-biblischen Zeiten ein kaltes Treppenhaus in Toronto war.

Zunächst war sie optimistisch gewesen. Sie würde hier bis zur Morgendämmerung ausharren und dann direkt in einen kleineren Ort weiterfahren, in dem es noch Betten gab. Und dann? Dann würde sie eben tatsächlich sightseeing machen. Es hatte noch keinem geschadet, ein wenig was von der Welt zu Gesicht zu bekommen. Wer brauchte schon zwei Halbbrüder, die nichts mit einem zu tun haben wollten? Einer von beiden hatte sich nicht mal blicken lassen. Sie hatte den ganzen Abend hier verbracht und es war niemand vorbeigekommen, der auch nur annähernd dafür in Frage kam, 1998 in Portland geboren worden zu sein.

Alles war in bester Ordnung gewesen, bis ihr Handy sich entladen hatte. Und dann war es kalt geworden und sie hatte nichts, um sich zu wärmen, als eine dünne Fleecejacke aus ihrem Rucksack, da sie naiver Weise nicht angenommen hatte, in unbeheizten Treppenhäusern übernachten zu müssen. Klassischer Anfängerfehler. Und dann, etwa gegen zwei Uhr, war sie in Tränen ausgebrochen. Es war einfach über sie gekommen, sie hatte es nicht aufhalten können. Und so saß sie da und heulte wie ein Depp, als plötzlich eine zerknitterte Flanellhose die Treppe herunterkam.

„Hey! Nicht erschrecken." Sie war zusammengezuckt, was eher der Kälte geschuldet war, als einem echten Schreck. Allerdings spielte das jetzt auch keine Rolle mehr. Sie musste ein erbarmungswürdiges Bild abgeben, mit geröteten Augen und unter einer grünen Fleecejacke begraben. „Ich bin nicht hier um euch zu beschatten, gleich morgen bin ich weg." Christian musterte sie kurz. Dann ging er neben ihr in die Knie. „Es tut mir leid, wie das vorhin gelaufen ist. Es kam einfach ein klein wenig überraschend." Er schmunzelte. „Ich halte dich nicht für eine Irre. Zumindest nicht für eine gefährliche Irre." Sie brachte ein tränenersticktes Lachen hervor. Trotz ihrer Farbe wirkten seine hellen, türkisfarbenen Augen warm und aufrichtig. „So. Du schläfst übrigens nicht hier im Treppenhaus. Hier gibt es Waschbären, wer weiß, was die mit dir anstellen, wenn sie dich finden." Noch einmal musste sie lachen. Dann verzog sie den Mund. „Das sagst du nur, weil ich dir Leid tue. Ich will mich nicht bei irgendwem einnisten und ihm zur Last fallen." Das brachte Christian zum Lächen. „Weißt du, Steph...darf ich dich Steph nennen?" Sie musste an ihre Familie denken und ihre Freunde zuhause. Die deutsche Abkürzung für Stephanie war Stephie.

„Steph ist wunderbar...Christian." „Chris." „Chris." „Steph, ich glaube wir sind uns wirklich gar nicht so unähnlich." er grinste. „Und jetzt komm, sonst kommen die Nachbarn und werfen mir vor, ein illegales Obdachlosenheim zu betreiben." Stephanie lachte. „Hey! So erbärmlich bin ich nun auch wieder nicht." Er musterte sie kritisch. „Mhh...doch. Eigentlich schon."

North is where the wind smells of pinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt