Blutvergießen

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Wenn er mit Chris allein war, störte es Jeremy nicht allzu sehr, nur ein Zuhörer für Chris' Monolog sein zu können. Sicherlich wünschte es sich manchmal, antworten, oder etwas auf einen stichelnden Kommentar erwidern zu können, doch wenn man 24 Stunden hatte, um über jede Antwort nachtzudenken, kam einem vieles nicht mehr so wichtig vor, wie es ursprünglich gewirkt hatte. Eigentlich war er bereits froh gewesen, als Stephanie langsam aufgehört hatte ihn zu mustern wie jemanden, der sich in ihrer Abwesenheit in ein Tier verwandelt hatte. Anders verhielt es sich allerdings, wenn man als einzige Person im Raum nicht mitreden konnte, während die anderen beiden sich über die größten Hits unter den eigenen Tiefpunkten austauschten. Egal wie sehr Chris sich auch bemühte, ihn in das Gespräch einzubinden, so lange er in diesem Körper steckte, würde er kaum mehr sein können, als ein unbeteiligter Zuschauer.

Ganz besonders störte ihn das, als Stephanie das Angebot machte, als Aushilfe auf Ferienjobbasis bei ihnen einzusteigen. An diesem Punkt hätte er sie am liebsten an den Schultern gepackt, geschüttelt und so lange nicht aufgehört, bis ihre Synapsen aufhörten, solche Ideen zu produzieren. Allein die Vorstellung, auch noch Stephanie in diese mittelmäßige Komödie einzubinden, die sie Alltag nannten, bereitete ihm Übelkeit. Glücklicherweise schien Chris' Erklärung sie von ihrem Vorhaben abgebracht zu haben. So weit, dass sie seit mehreren Minuten wieder schweigend nebeneinandersaßen und die Wand betrachteten. Scheinbar hatte sich Stephanie jetzt allerdings an der subtilen Schönheit sattgesehen und wagte einen neuen Vorstoß. „Kann ich es sehen?"

Chris zog scharf die Luft ein und warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Sie wussten beide, dass sie nicht die Strickarbeiten ihrer Nachbarin meinte. Dennoch fragte Chris in einem unwissenden Ton „Was denn?" Srephanie rollte mit den Augen. „Wie ihr tauscht." Angesichts der Tatsache, dass sie Stephanie heute bereits einmal am Rande des Wahnsinns in einem Café aufgesammelt hatten, kam es Jeremy nicht wie gute Idee vor, sie diesem Anblick auszusetzen. Chris schien seiner Meinung zu sein. „Steph, das ist wirklich kein schöner Anblick." Stephanie seufzte resigniert. „Ich will es auch nicht sehen, weil ich es besonders ästhetisch finde, sondern weil ich die Hoffnung habe, dass mein Hirn es dann als Realität akzeptiert. Bisher hat es noch seine Schwierigkeiten damit." Wenn sie jetzt schon Probleme mit dem Begreifen der Realität hatte, dann sah Jeremy nicht, wie es ihr helfen sollte, wenn sie beobachtete, wie sich ein Jurastudent vor ihren Augen in einen Wolf verwandelte. Chris schien sie mit ihrem Argument allerdings überzeugt zu haben. „Wir hatten vereinbart, jede Frage." Sagte er mehr zu sich selbst. Er wandte sich zu Jeremy um. „Eigentlich wärst du sowieso gerade dran." Er war zum Coffeshop gegangen um Stephanie zu finden, damit er im Zweifelsfall seine Kollegen davon abhalten konnte, sie in eine geschlossene Anstalt einweisen zu lassen. Jeremy war hin und her gerissen. Einerseits fürchtete er, Stephanies Psyche heute endgültig den Rest zu geben, anderseits hoffte er, dass damit ihr Wunsch, ein unkündbares, monatliches Abonnement von „Verwandlungen ein Raubtier" abzuschließen, erst einmal verschwunden wäre. Zögerlich erhob er sich von der Couch und bedeutete Chris es ihm gleichzutun.

Ein letztes Mal wandten sie sich zu Stephanie um, die mit angezogenen Knien auf ihrer Ecke der Couch saß und aussah, als wisse sie selbst nicht, was sie sich dabei gedacht hatte. Auch Chris schien ihre Unsicherheit aufzufallen. Besorgt fragte er sie „Bist du dir sicher, dass du das willst?" Stephanie fokussierte ihren Blick und versuchte sich an einem optimistischen Lächeln. „Bringen wir's hinter uns." Unsicher krempelte Chris den Ärmel seines Hemdes nach oben, ohne Stephanie dabei aus den Augen zu verlieren. Dann ging er in die Knie und hielt Jeremy seinen Unterarm entgegen. Jeremy sah ihn fragend an. „Sie verkraftet das." Dennoch drehte sich Chris ein letztes Mal zum Sofa, wo Stephanie das Geschehen wie gebannt verfolgte. Dann zog Jeremy eine Kralle über die Haut auf Chris' Arm, wo sie eine feine, rote Linie hinterließ, aus der winzige, rote Tropfen, wie Perlen auf einer Schnur hervorquollen. Wie immer geschah einige Augenblicke lang nichts. Auf dem Sofa wurde Stephanie bereits ungeduldig „Wie lange dau...", dann setzte der Schmerz ein.

Egal wie oft man es tat, man gewöhnte sich nie wirklich daran. Zwar hatte es seinen Horror mit der Zeit verloren, aber die Schmerzen waren die selben und erinnerten Jeremy jedes Mal an die Nacht vor einem Jahr. Damals waren ihm Fänge und Krallen gewachsen, jetzt verkürzten sich seine Zähne. Es fühlte sich an, als würde man sie mit Gewalt in seinen Kiefer drücken. Auch bei Chris hatte es begonnen. Er kniete keuchend am Boden und betrachtete seine Nägel, die sich zu spitzen Krallen verformten. Jeremys Körper wurde in die Länge gezogen. Seine Arme wurden breiter, seine Klauen wurden zu Fingern. Er spürte, wie sein Rücken sich begradigte und sein Gesicht sich verkürzte. Er zuckte zusammen, als Sehnen sich ablösten und neu verbanden, Muskeln ihre Positionen tauschten, Knochen sich gegeneinander verschoben. Als sein Schädel sich verformte, sich in die Breite und Höhe dehnte raubten ihm die Schmerzen den Atem. Sein Blickfeld verengte sich zusehends, bis ihm für einen Augenblick schwarz vor Augen wurde. Dann war es vorbei. Alles, was er spürte, war der feste Boden unter seinem Körper.

Jeremy lag schwer atmend auf dem Rücken und starrte an die Decke. An seinen Schultern spürte er den Stoff des Hoodies, den er am Morgen angezogen hatte. Als er wieder klar sehen konnte, drehte er sich um und warf einen Blick in Richtung Sofa. Dort saß Stephanie im Schneidersitz und hatte ihr Kinn auf die Hände gestützt. „Alles in Ordnung?" Fragte Jeremy besorgt. Am Rand seines Sichtfeldes konnte er Chris sehen, der auch wieder bei Sinnen war und Stephanie musterte. Langsam wandte sich Stephanie zu ihm um. Ihr Blick war neutral, doch ihre Augen glitzerten feucht. „Ist es so schmerzhaft, wie es aussieht?" Jeremy wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er entschied sich für die Wahrheit. „Ja." Er flüsterte es beinahe. Damit stand sie auf und verkündete „Ich werde jetzt duschen, falls es euch nichts ausmacht." Kurz darauf war sie im Bad verschwunden. „Klar." Brachte Jeremy gerade noch hervor. Chris und er konnten ihr nur besorgt hinterherblicken. „Ich schätze, das ist kein gutes Zeichen."

North is where the wind smells of pinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt