Innerhalb einiger Tage hatte sich für Stephanie ein Rhythmus ergeben. Sie stand auf, Frühstückte und saß anschließend die meiste Zeit des Tages mit einem bücherlesenden Wolf in einer zwei-Zimmerwohnung herum. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, doch sie ahnte, dass es ihren Erwartungen nicht entsprach. Natürlich verbrachte sie auch Zeit mit Chris oder Jeremy. Meistens kochten sie gemeinsam, oder stritten zumindest gemeinsam darüber, bei welchem Lieferdienst sie Essen bestellen sollten. Nach ihrer Innovation mit der Tastatur war es auch einfacher geworden, mit den Wölfen zu kommunizieren. Und wenn das zu anstrengend war, konnte man einige Brettspiele spielen. Memory funktionierte gut, wenn sie die Karten für ihren Gegner umdrehte. Einmal hatten sie und Jeremy Schach gespielt. Sie hatte es nicht wiederholen wollen, es hatte sich recht erniedrigend angefühlt, gegen einen Wolf im Schach zu verlieren. Aber wer auch immer gerade zuhause war hatte nicht immer Zeit für sie und zu dritt waren sie eigentlich nur abends und am Wochenende gewesen.
Also hatte Stephanie begonnen, kleine Ausflüge durch die Stadt zu unternehmen. Nachdem sie das öffentliche Verkehrssystem durchschaut hatte, war ihr Toronto deutlich weniger bedrohlich und fremd vorgekommen, als noch an ihrem ersten Tag. Zunächst hatte sie die offensichtlichen Dinge besucht, wie die Casa Loma (konnte Stephanie empfehlen) und den CN-Tower (Konnte sie nicht empfehlen; Vertigo.), dann hatte sie sich an die unscheinbareren Dinge herangewagt. Sie hatte die Graffiti alley besichtigt und den distillery district und hatte sogar versucht, sich mit lokalen Studenten anzufreunden. Wie sich herausstellte waren diese allerdings generell wenig begeistert davon, wenn man sich spontan in der Cafeteria zu ihnen setzte und versuchte, ein Gespräch vom Zaun zu brechen. Vermutlich hatte sie mit Jeremy und Chris recht großes Glück gehabt. Allerdings konnte die Fähigkeit, ihre Art zu tolerieren, auch genetisch bedingt sein.
Als sie sich eines Tages besonders mutig gefühlt hatte, hatte sie an einem Zumba-Kurs im High Park teilgenommen. Chris hatte keine Worte nötig gehabt, um ihr mitzuteilen, wie sehr er sie für diese Entscheidung respektierte. Angespornt von purem Trotz hatte sie sich also ihre löchrige Jogginghose angezogen und war mit dem Bus in die Stadt gefahren. Nach eineinhalb Stunden der Blamage unter freiem Himmel hatte sie sich unzufrieden in ein kleines Szene-Café gesetzt und all die verlorene Energie in Form von Nanaimo bars wieder aufgefüllt. Mit schmerzenden Muskeln und einer Tüte voll Nanaimo bars war sie wieder in der Straße mit den roten Backsteingebäuden angekommen. Sie atmete den lauwarmen Duft des Frühjahrs ein und als sie die Wohnungstür aufschloss, stellte sie fest, dass es sich anfühlte, als würde sie nach Hause kommen.
Lächelnd schloss sie Tür hinter sich. Noch während sie ihre Sneakers abstreifte, rief sie lachend „Okay. Das war ein Reinfall. Aber ich habe die lokale Wirtschaft mit einer großzügigen Spende von 10 Dollar im Austausch gegen fünf Nanaimo Bars unterstützt!" Sie hatte keine Antwort erwartet, also überraschte es sie nicht, dass sie keine erhielt. Dennoch lief ihr jetzt ein Schauer über den Rücken. Sie versuchte, den Grund für ihr plötzliches Unbehagen zu finden und blickte misstrauisch aus dem Flur ins Wohnzimmer.
Vor Schreck glitt ihr die Tüte aus den Händen. Wie eine giftige Schlingpflanze brach die Angst aus ihrem Inneren hervor und heftete sich an ihre Glieder. Sie ließ ihre Gelenke steif werden und zog ihre Brust schmerzhaft zusammen. Sie ließ die am Boden verteilten Schnittchen liegen und warf sich vor dem Fernseher auf den Boden zu Chris, der schwer atmend vor ihr lag. Wo einst ein Stück unscheinbare Decke gewesen war, klaffte nun ein dunkles Loch aus splittendem Holz, aus dem unablässig ein kleines Rinnsal schaumigen Wassers tropfte. Auf dem Boden hatte sich bereits eine große, seifige Lache gebildet. Das Wasser hatte sich mit Chris' Blut vermengt und bildete nun einen unheilvollen, metallisch duftenden See mitten im Wohnzimmer. Aus dem Loch in der Decke ragte der zerrissene Stumpf eines Abflussrohres. Der Rest hatte sich in Chris' Seite gebohrt und war am Bauch wieder ausgetreten.
Stephanie landete auf ihren Knien neben Chris' Kopf mitten in der Lache. Sie spürte, wie der Stoff ihrer Hose das kalte Wasser gierig in sich aufnahm, doch sie nahm es kaum wahr. „Chris? Chris! Hörst du mich?!" Sie hatte das Gefühl, Chris' Atem wurde immer schwächer. Sie berührte sacht seine Schulter. „Chris! Bitte!" Chris schlug die Augen auf und blickte sie an. Sie brauchte keine Tafel um zu lesen, was in seinem Blick geschrieben stand; Schmerz. Er bewegte den Kopf in Stephanies Richtung. Nur ein paar Millimeter, doch es reichte. Er war noch am Leben. Als Stephanie etwas Feuchtes an ihrer Hand spürte, zog sie sie zurück. Entsetzt stellte sie fest, dass sie voll Blut war. Wie eine klebrige, zweite Haut haftete es an ihrer Handfläche. Sie musste etwas tun. Nur was? Ihr letzter erste Hilfe Kurs hatte in der achten Klasse sattgefunden und abgesehen davon waren darin keine Wölfe behandelt worden. Sie spürte Panik in sich aufsteigen, als sie das große, eiserne Rohr betrachtete, das aus Chris' Körper herausragte, wie der Mast eines untergehenden Schiffes. Bei seinem Anblick musste Stephanie an die gusseiserne Pfanne denken, in der sie und Jeremy Pfannkuchen gebraten hatten. Das kam ihr jetzt wie ein anderes Leben vor. Eine andere Stephanie, die vielleicht anders gehandelt hätte als sie. Sie wusste, was sie zu tun hatte.
Entschlossen stand sie auf. Das blutige Wasser rann an ihren Beinen hinab, als sie in die Hocke ging und mit beiden Händen das Rohr ergriff. Bei der Berührung zuckte Chris zusammen. Sorgenvoll betrachtete sie ihn. Sie musste sich beeilen. Er würde nicht mehr lange durchhalten. „Es tut mir Leid Chris, das wird jetzt sehr unangenehm werden." Dann stemmte sie die Beine in den Boden und zog das Rohr aus Chris' Körper heraus. Es verursachte ein übelerregendes, saugendes Geräusch und Chris stieß dabei ein tiefes Knurren aus, doch sie gestattete sich nicht, aufzuhören.
Als sie das Ende des Rohres aus Chris' Fleisch zog, konnte sie die Wunde sehen, die es hinterlassen hatte. Eine tiefrote, gähnende Leere starrte ihr entgegen, die sich allarmierend schnell mit Blut füllte. Sie durfte jetzt keine Zeit mehr verlieren. Achtlos warf sie das Eisenrohr zur Seite und drückte eine Hand auf die Wunde. Zwischen ihren Fingern rann das Blut wie aus einer kleinen Quelle im Fels hervor. Sie ergriff Chris' Vorderbein und führte seine Krallen mit der freien Hand zum Arm, der die Blutung stillte. Plötzlich riss Chris die Augen aus und entriss ihr sein Bein. „Chris!" Er versuchte aufzustehen, doch es gelang ihm nicht. Kraftlos fiel er auf die Seite. Jetzt schrie Stephanie ihn an. „Chris! Verdammt, du verblutest!" Sie rückte an ihn heran und presste ihre Hand wieder auf die Wunde. Erneut griff sie sein Bein. Sie sah ihm in die Augen und lächelte sanft. Leise fügte sie jetzt hinzu. „Es ist okay."
Einen Moment sahen sie sich an. Dann Zog sie Chris' Krallen über ihren Unterarm. Fasziniert beobachtete sie für einen Moment, wie sich kleine Blutstropfen in den vier ebenmäßigen Linien sammelten, und sich mit Chris' Blut auf dem Boden vereinten. Dann zerriss ein heftiger Schmerz ihre Gedanken.
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North is where the wind smells of pines
WerewolfOriginaltitel: Das inkohärente Gewusel, das sich eines Tages zu einem Plot verdichten könnte (working title) Liebe Leute auf Wattpad, ich werde gar nicht erst versuchen, so zu tun, als sei das hier viel mehr, als eine äußerst mittelmäßige Urban Fant...