Von einem Schlag

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Das Abendessen war ungewöhnlich gewöhnlich verlaufen. Jeremy hatte sich große Mühe gegeben, über unterhaltsame Nichtigkeiten zu sprechen, und Stephanie war dankbar auf ihn eingegangen. Sie hatte erfahren, dass er als Kind einen Hamster namens „Lobster" gehabt hatte und dass sein jüngerer Bruder ihm in einem Akt der Güte die Freiheit geschenkt hatte. Auch ein paar lustige Geschichten über Chris waren dabei herausgekommen. Als er beispielsweise im ersten Semester, um zu beweisen, dass er nicht betrunken war, begonnen hatte, die Zutaten für eine Pizza vier Jahreszeiten aufzusagen, was zugegebenermaßen eine beachtliche Liste war. Chris hatte auf dem Sofa gelegen und es schweigend über sich ergehen lassen. Stephanie fiel es schwer, sich vorzustellen, wie die Beiden gemeinsam auf Partys gingen und sich amüsierten wie normale Studenten. Vermutlich machte es weniger Spaß, wenn man wusste, dass der Andere zuhause saß und sich langweilte.

Abends saß Stephanie auf ihrem Bett und betrachtete ihren linken Unterarm. Vier feine, gerade Erhebungen, die etwas heller waren als der Rest ihrer Haut, waren darauf zu sehen. Vermutlich war das der Grund, wieso Jeremy seine Narbe von dem Biss noch hatte. Diese Verletzung schien nicht spurlos zu verschwinden. Sie stieß ein freudloses Lachen aus. Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie sich an einer anderen Stelle gekratzt.

Sie blickte zum Fenster, durch das ein fahles, weißes Licht hineinfiel und gespenstische Schatten im Zimmer erzeugte. Als sie herantrat und ihren Blick in den Himmel richtete, konnte sie den Mond sehen, der ihr aus einer Lücke zwischen zwei Wolken seinen Schein entgegenwarf. Drohend war das Licht bereits über die Hälfte der fahlen, grauen Scheibe gekrochen. Stephanie kannte sich nicht allzu gut mit Mondphasen aus, doch sie wusste, dass es nur noch höchstens 2 Wochen bis zum nächsten Vollmond sein konnten. Sie seufzte und wollte gerade wieder ins Bett gehen, als sie die Badezimmertür hörte. Sie lauschte. Leise Schritte nährten sich ihrer Türe. Jemand stand vom Sofa auf und ein zweites Paar Schritte mischte sich unter die ersten. Diese waren schneller und von einem angenehmen Klackern begleitet. Wie von zierlichen Stepptänzern. Sie wartete, bis die Schritte verstummt waren und ging zur Tür. Unsicher ließ sie ihre Hand über der Türklinke schweben. Dann ergriff sie das kühle Metall.

Weder Chris noch Jeremy wandten sich zu ihr um, als sie leise das Wohnzimmer betrat. Sie beobachtete sie einen Moment. Auf Jeremys Gesicht vermischte sich das Licht des Mondes mit dem satten, gelben Schein der Straßenlaterne und bildete einen fahlen, goldenen Glanz, der sich auf seine Züge legte. Heute lehnte er nicht im Fensterrahmen, sondern stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor der Scheibe. Stephanie ging zu ihnen herüber. Als sie das Zimmer durchquerte hatte sie kurz das Gefühl, als würde ihr ein Hauch von Eisen in die Nase steigen. Sie stellte sich hinter Jeremy, sodass sie zwischen den Beiden auf die Straße blicken konnte. Sie spürte, wie sich ihre Pupillen beim Blick in den Lichtkegel der Laterne verengten. Auch sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Als hätten sie gerade erst gemerkt, dass sie da war, drehten sich Jeremy und Chris jetzt zu ihr um.

Jeremy blickte sie an, als würde er etwas auf ihrem Gesicht suchen. Sie sah ihm stumm in die Augen. Sie verharrten einen Moment so. Mit ineinander verhaktem Blick. Dann wandte sie sich zu Chris um. Dann, wie auf ein Zeichen, dass nur sie drei kannten, ließen sie ihren Blick wieder aus dem Fenster gleiten. Eine Wolke schob sich über den Mond und ließ nur das warme Licht der Laterne zurück, das ihre Gesichter erhellte.

North is where the wind smells of pinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt