Gift

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Stephanie öffnete träge die Augen, als sie das Licht, dass gnadenlos durch das Fenster zu ihr hereingekrochen kam, begann zu blenden. Sie bereute es augenblicklich, die Augen geöffnet zu haben. Nein, das stimmte nicht, sie bereute in erster Linie ihren dritten Long Island Iced Tea. Etwa um drei Uhr waren sie nach Hause gegangen. Sie hatte noch viel über die vier erfahren. Sie studierten alle Lehramt in Hamburg. Elena Germanistik, Till Anglistik, wie Stephanie, und Lotta und Hannes Latein im Hauptfach. Stephanie musste schmunzeln bei dem Gedanken an eine Anekdote von Lotta, in der eine Gruppe Siebtklässler vorkam, die nichts mit Ovid zu tun haben wollte. Es hatte gutgetan, sich mal wieder auf Deutsch zu unterhalten. So gut, dass sie, nachdem sie sich an ihrer Bushaltestelle verabschiedet hatten, den Busfahrer prompt auf Deutsch gefragt hatte, was die Rückfahrt kostete. Bei dem Gedanken klatschte sie sich stöhnend das Kopfkissen ins Gesicht.

Sie tastete auf dem Nachtschränkchen nach ihrem Handy. Zuerst stellte sie die Helligkeit auf die niedrigste Stufe ein, erst dann traute sie sich, einen Blick auf das Display zu werfen. Sie erschrak. Es war bereits fünfzehn Uhr. Sie hatte zehn Stunden lang geschlafen. Eine Nachricht von Chris wurde ihr angezeigt. Ein schlechtes Gewissen überkam sie. Sie hatte seelenruhig ihren Rausch ausgeschlafen, während Jeremy und Chris auf der Beerdigung ihres ehemaligen Trainers waren. Immerhin hatte sie es abends noch geschafft, eine Nachricht abzusetzen. „Seid ihr gut angekommen?" Erleichtert stelle sie fest, dass sie keine Rechtschreibfehler gemacht hatte. Als Antwort hatte Chris ihr ein Foto von einer kleinen Promenade an einem Kanal in den frühen Morgenstunden geschickt. Sie kannte diesen Kanal. Er hing als Kohlezeichnung im Wohnzimmer. Darunter hatte er geschrieben „Home, sweet home." Stephanie lächelte. Dann kamen die Gewissensbisse wieder über sie. Das Foto war um sechs Uhr morgens entstanden, wahrscheinlich waren sie gerade auf dem Weg zur Kirche gewesen und sie hatte nicht reagiert. Sieben Stunden lang. Das letzte was die beiden jetzt gebrauchen konnten, war, sich auch noch um sie sorgen zu müssen. Sie starrte eine Weile auf die Nachricht. Ihr wollte keine Antwort einfallen, die ihr Versäumnis wiedergutgemacht hätte, also verfasste sie eine, die es nicht tat. „Ich hoffe, ihr seid okay." Stephanie seufzte.

Sie schleppte sich in die Dusche und ließ kaltes Wasser auf ihren Schädel rieseln. Das half ein wenig. Danach machte sie sich ein Sandwich mit Salat, Ei und Käse, im Grunde allem, was sie noch im Kühlschrank hatten, das kein Fleisch war. Sie besah sich die kläglichen Reste an Lebensmitteln, die sie noch übrig hatten. Wenn sie schon ein schlechter Mensch war, konnte sie wenigstens einkaufen gehen. Außerdem lag noch einiges an Ausrüstung von ihrem Campingausflug im Flur herum. Auch das würde sie aufräumen bevor Jeremy und Chris zurück waren. Vielleicht würde das ihr Gewissen zum Schweigen bringen. Und wenn nicht, würde es danach in der Wohnung wenigstens hübsch aussehen. Im Moment klang Einkaufen allerdings nach der weniger anstrengenden Alternative, also schnappte sie sich einen Beutel, zog ihre Stiefel an und verließ die Wohnung.

Nachdem sie alles im Kühlschrank verstaut hatte, stellte sie zufrieden fest, dass ihr Chris nun nicht mehr vorwerfen konnte, nie einkaufen zu gehen. Abgesehen davon hatte sie sich ohnehin immer finanziell beteiligt, doch das Argument war nun endgültig hinfällig. Sie sah auf ihr Handy. Keine Nachrichten von den beiden. Inzwischen war es Abend geworden. Seufzend ließ sie sich auf die Couch fallen und schaltete den Fernseher ein. Sie öffnete Netflix und fand ihre letzte angefangene Folge X-Files. Sie schmunzelte und wählte stattdessen eine Naturdokumentation über Riffhaie. Als das Fressverhalten der dritten Haiart erklärt wurde, vibrierte Stephanies Handy. Auf dem Display erschien eine Nachricht von Chris. „Wir sind okay, fahren morgen früh hier los." Dann kam eine zweite Nachricht an. „Schau nicht ohne uns X-Files." Stephanie grinste.

Stephanie war bei Haiart Nummer fünf auf dem Sofa eingeschlafen. Mitten in der Nacht war sie aufgewacht und hatte sich ins Bett geschleppt, trotzdem ging es ihr am folgenden Tag deutlich besser. Beinahe beschwingt war sie aufgestanden und hatte sich frühstück gemacht. Dank ihrer Initiative hatte sie jetzt alles hier, was sie bemötigte. Sie hatte lange suchen müssen, doch bei Whole Foods hatte sie schließlich ein überteuertes, genießbares Brot gefunden. Sie bestrich eine Scheibe mit Butter und verteilte großzügig Honig darauf. Der Geschmack machte sie sofort nostalgisch. Trotz ihres Elans tänzelte sie den Vormittag noch um die Ausrüstung im Flur herum. Sie würde die schweren Zelte und Lampen auf die beiden Schränke im Schlafzimmer hieven müssen. Das würde sie noch ein wenig aufschieben. Stattdessen begann sie, die Wohnung zu putzen. Als die Küche zum ersten Mal seit einer langen Zeit nach Putzmittel, statt nach rohem Fleisch roch und sie im Badezimmerspiegel ihr eigenes Gesicht erkennen konnte, war es bereits Nachmittag. Sie stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor dem Haufen aus Planen und Säcken und musterte ihn missmutig. Als sie sich endlich überwand, und die oberste Schicht aus Zeltstoff zur Seite schob, hielt sie verwundert inne. Sie blickte auf etwas, das aussah, wie ein grob geknüpftes, dunkles Seil. Zu spät erkannte sie, worum es sich handelte. Die Schlange schwenkte die Rassel an ihrem Schwanz und erzeugte damit ein unheilvolles Klappern. Dann schnellte sie nach vorn und versenkte ihre Zähne in Stephanies Unterschenkel.

Stephanie sprang zurück, doch es war bereits zu spät. Die Schlange verkroch sich wieder unter dem Berg aus Ausrüstung und ließ sie zitternd zurück. Sie humpelte ins Wohnzimmer um Abstand zwischen sich und das Reptil zu bringen, und ließ sich dort auf das Sofa fallen. Sie betrachtete die Wunde. Es handelte sich um zwei kleine, punkförmige Einstichstellen, aus denen jeweils ein Tropfen Blut rann. Ein Brennen begann sich von dort in ihrem Bein auszubreiten, doch Stephanie war bisher nicht zu Ohren gekommen, dass Kanada besonders viele, gefährliche Schlangen besessen hätte. Sie wollte nach ihrem Handy greifen, das neben ihr auf dem Sofa lag, um herauszufinden, wo sich die nächste Notaufnahme befand, als sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte.

North is where the wind smells of pinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt