Temporäre Lösungen

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Noch bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte, war Jeremys Stimme im Wohnzimmer zu hören. „Es ist was passiert, während ich mich mit der Bibliothekarin über meine kaputten Umschläge gestritten habe?!" Er kam aus dem Flur ins Wohnzimmer gestürzt. Seine Haare waren völlig zerzaust und seine Jacke falsch geknöpft. Er atmete schwer. War er hier hergerannt? Stephanie lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen am Esstisch. „Guten Tag! Wir sind auch froh, dass du nicht tot bist."

Als sein Blick ihn fand wandte sich Jeremy mit vor Sorge geweitetem Blick zu Chris. „Bist du okay?" Chris nickte. Dann sah er Stephanie aus schockiert blitzenden Augen an. Sie blickte mürrisch zurück. Sein Ausdruck veränderte sich. Sie kannte diesen Blick. Auch Chris hatte ihn aufgesetzt, als er sie zum ersten Mal als Wolf gesehen hatte. „Steph, es tut mir so Leid."

Genervt rollte Stephanie mit den Augen. „Warum tut es dir jetzt auch noch Leid? Ist sich zu entschuldigen hier ein Volkssport?" Ein kurzer, verletzter Blick huschte über Jeremys Gesicht. Sofort bereute Stephanie ihre harschen Worte. „Jeremy, mir geht es gut." Versuchte sie es etwas sanfter. „Ich bin heute nicht Zeugin eines brutalen Todes durch ein Abflussrohr geworden und ich glaube an diesem Punkt in meinem Leben kann ich das als Gewinn verbuchen." Besorgt musterte Jeremy sie. Stephanie wandte den Blick ab und sah zum Fenster. Das Licht der Untergehenden Sonne fiel hindurch und ließ alle Objekte im Raum lange Schatten werfen. Das halbe Rohr, das aus der Decke hing und seinen schmalen, aber stetigen Strahl in den Eimer auf dem Boden goss, den Rest des Rohres, der in der Ecke des Raumes lehnte und seine unheilvollen, roten Striemen von der Abendsonne bescheinen ließ, und auch sie drei warfen lange, verzerrte Schatten an die Wand, die im goldenen Licht der Dämmerung wie groteske Karikaturen der Originale wirkten. Stephanie wurde von einem Klopfen an der Tür aus ihren Gedanken gerissen. Sie fing Jeremys verwunderten Blick auf. „Das muss der Handwerker sein."

Geistesgegenwärtig hatte Jeremy noch das blutbeschmierte Rohr verschwinden lassen, bevor er die Tür geöffnet hatte. Sie mussten dem Herrn ein merkwürdiges Bild geliefert haben. Ein stummes Mädchen, das mit verschränkten Armen am Küchentisch lehnte. Ein Typ mit zerzaustem Haar, der die Szene beobachtete, als erwarte er jeden Moment, aus einem Traum zu erwachen und ein riesiger, deutscher Schäferhund, der mehr Anteil zu nehmen schien, als beide zusammen.

Sorgfältig aufgereiht standen sie am Küchentisch und beobachteten den Mann bei seiner Arbeit. Der besah sich für einige Minuten kopfschüttelnd die Szene, dann verkündete er. „Ich weiß auch nicht genau, wie das passieren konnte. Heute kann ich das jedenfalls nicht in Ordnung bringen. Aber ich kann dafür sorgen, dass es zumindest nicht mehr raustropft." Er drehte sich zu ihnen um. Scheinbar erwartete er eine Antwort. Jeremy fand als erster die Sprache wieder. „Ähm Ja. Klar. Das wäre schön." Er versuchte sich an einem freundlichen Lächeln. Während der Handwerker in seiner Werkzeugkiste kramte, sprach er weiter. „Es wird ein bisschen dauern, das zu reparieren. Die Rohre werden nicht mehr hergestellt, ich muss die Ersatzstücke also extra anfertigen lassen." Jeremy blickte Stephanie von der Seite an. Ohne, dass sie es gewollte hatte, hatten sich Tränen an ihrem unteren Lid gesammelt, die ihr nach und nach die Sicht nahmen.

Er drehte sich kurz zum Handwerker, um sich zu vergewissern, dass er beschäftigt war, dann flüsterte er. „Ich weiß, dass du gerade noch nicht darüber reden willst." Stephanie blickte ihn an. Hinter dem Film aus Flüssigkeit erkannte sie Jeremy nur schemenhaft. Er sprach mit leiser Stimme weiter. „Aber wenn du dazu bereit bist, sind wir jederzeit für dich da. Okay?" Stephanie atmete tief ein und schloss die Augen. Eine Träne rann ihr über die Wange. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie Jeremy wieder klar vor sich sehen. Sie nickte und versuchte sich an einem Lächeln. Jeremy lächelte zurück. „So das wär's."

Stephanie löste ihren Blick von Jeremy und betrachtete das Ergebnis. Auf dem Rohr war nun eine dünne Metallplatte angebracht worden, die es mit einem feinen Ring aus Plastik versiegelte. Die Konstruktion wirkte wenig vertrauenserweckend, doch für den Moment war das Tropfen versiegt. Zufrieden rieb sich der Handwerker die Hände. „Yup. Gut. Dann schönen Tag noch."

Er wollte sich bereits zum Gehen wenden, als Jeremy ihn verwirrt aufhielt. „Und was ist mit dem Loch in der Decke?" Der Handwerker wandte sich um und betrachtete den gähnenden Schlund, der sich an der Zimmerdecke aufgetan hatte, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Ja, das wird warten müssen, bis ich alle Ersatzteile habe." Einen Moment betrachteten sie gemeinsam, was von ihrer Zimmerdecke übrig geblieben war. „Tja." Setzte der Mann erneut vergnügt an. „Dann bis die Tage!" Damit war er verschwunden. Die Drei blieben allein zurück und starrten weiterhin in das dunkle Loch. In dem Abgrund wirkte das kleine Siegel wie eine Farce.

Stephanie war die Erste, die die stille brach. „Nun. Ich werde jetzt eine Pizza bestellen. Sonst noch jemand?" Sie sah sich zu Jeremy um, der sich ebenfalls aus seinen Gedanken löste. „Was? Äh...ja. Pizza. Gute Idee."

North is where the wind smells of pinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt