„Miles? Mama fragt, ob du mich heute zur Schule mitnehmen kannst.“ Grummelnd zog ich meine Decke über den Kopf. Das war doch jetzt nicht ihr ernst.
Ich hörte, wie meine Schwester in der Tür stehen blieb, unsicher, wie ich jetzt reagieren würde. Ich grummelte noch einmal und hob dann meine Decke an.Merle verstand das richtig als Aufforderung und kam zu mir, um sich an mich zu kuscheln.
„Ich dachte, Dad fährt dich heute?“ Mum hatte diese Woche Frühschicht im Krankenhaus. Mein Dad Spätschicht.„Wenn es von dir aus nicht geht, dann wecke ich deinen Vater. Er kam nur gestern erst so spät von seiner Schicht zurück, da würde ich ihn lieber ausschlafen lassen“, sagte Mum, die nun an Merles Stelle in der Tür stand.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es erst halb sechs war. Ich hätte noch mindestens eine Stunde schlafen können! Merles Unterricht begann ein wenig früher als meiner. Ich seufzte tief.
„Nein, schon gut. Ich wollte heute sowieso früher aufstehen.“ Gelogen, aber von meiner Mum bekam ich ein dankbares Lächeln und Merle quietschte vergnügt. Warum der kleine Giftzwerg sich so darüber freute, konnte ich nicht sagen, denn anstatt gemütlich im Auto gefahren zu werden, musste sie jetzt mindestens zwanzig Minuten mit mir laufen. Ich redete mir einfach ein, dass meine kleine Schwester nur gerne so viel Zeit wie möglich mit mir verbrachte – vermutlich war dieser Gedanke nicht mal so weit hergeholt.
„Ich mache euch beiden noch Schulbrote, aber dann muss ich wirklich los. Ich bin schon ziemlich spät dran.“ Ich hätte meine Mum aufhalten und ihr versichern können, dass ich das Essen schon allein zubereitet bekam, doch dafür liebte ich ihre Brote zu sehr. Außerdem legte sie immer so süße Zettel dazu, mit kleinen Motivations- und Hab-dich-lieb-Sprüchen. Wenn sie also schon anbot, die Schulbrote zu schmieren, dann würde ich sie nicht davon abhalten.
Stattdessen zog ich Merle noch ein Stück enger an mich und nuschelte ihr ins Ohr: „Was dagegen, wenn wir noch ‘ne halbe Stunde schlafen?“
Wir hatten am Ende trotzdem noch genug Zeit, um ein paar Cornflakes zu futtern und gemütlich unserer Morgenroutine nachzugehen.
Schließlich verließen wir gemeinsam das Haus und machten uns auf den Weg zu Merles Schule.Unser Weg führte nicht durch den Wald, aber über einen Wanderweg direkt daran vorbei.
Ich hatte den Vorfall von gestern fast vergessen, obwohl mich das rote Glühen bis in meine Träume verfolgt hatte. Ich konnte nicht genau sagen, ob es wirklich Augen waren, dafür hatte ich es einfach viel zu kurz gesehen. In meinem Traum waren es definitiv welche gewesen, aber ganz ehrlich: Welches Wesen hatte denn bitte solche Augen? Sowas gab es doch nicht.So sehr ich es auch wollte, ich konnte mir nicht einreden, dass das Leuchten nur Einbildung war. Jedoch schaffte ich es mittlerweile, meinem Gehirn eine rationale Erklärung vorzugaukeln. Ein verlorenes Handy, dessen Bildschirm kurz aufgeleuchtet hatte. Oder irgendetwas Ähnliches eben.
„Miles, jetzt trödle doch nicht so!“, beschwerte sich meine Schwester und packte mich am Handgelenk, um mich hinter sich herzuziehen. Süß. Als würde sie das wirklich schaffen, wenn ich mich dagegen wehren würde.
„Hey, du kleine Ratte. Wir haben noch genug Zeit, mach dir mal keine Sorgen“, kicherte ich, doch das Grinsen verschwand aus meinem Gesicht, als ich etwas hinter mir spürte. Ruckartig drehte ich mich um, doch da war nichts außer … einem glühenden Rot im Gebüsch.
„Merle, komm her“, sagte ich sofort und packte die Hand meiner Schwester. Ich fühlte mich gerade ganz und gar nicht wohl, sondern viel eher … verfolgt.
„Aua, nicht so fest. Miles, was ist denn?“, quengelte Merle und zog ihre Hand aus meiner Umklammerung.
„Entschuldige, ich wollte dir nicht weh tun, es ist nur …“ Ich sah noch einmal zu dem Gebüsch, doch da war nichts. „Du hast recht, wir sollten uns beeilen.“
Auf dem plötzlich erschreckend langen Weg zur Schule fühlte ich mich durchweg beobachtet, doch das Glühen sah ich nicht nochmal.
Ich setzte Merle auf dem Schulgelände ab und trichterte ihr noch einmal ein, ja auf Mum zu warten und nicht allein nach Hause zu gehen. Plötzlich kam mir der Weg nämlich gar nicht mehr so sicher vor.
Danach machte ich mich sofort auf den Weg zu Felix. Ich hatte ihm geschrieben, dass ich ihn heute abholen würde und wir zusammen zur Schule gingen, damit ich nicht überpünktlich allein dort vergammelte.
„Ich habe echt das Gefühl, langsam verrückt zu werden!“, beendete ich meine Erklärung. Ich hatte meinem besten Freund alles über dieses rote Glühen erzählt und er hatte zugehört, während er seinen Morgenkaffee schlürfte.
„Hm, ja, vielleicht“, wusste er hilfreich beizusteuern. „Und Merle hat nichts gesehen?“
„Ich hab sie jetzt nicht danach gefragt, aber sie hätte es mir sicher gesagt. Oder wäre direkt darauf zugelaufen! Oh Gott, stell dir vor, was hätte passieren können!“ Ich begann immer aufgeregter zu sprechen, doch Felix verdrehte nur die Augen.„Alter, jetzt komm mal runter! Das hat bestimmt nichts zu bedeuten und wenn Merle nichts gesehen hat, ist doch alles gut.“ Er nahm einen weiteren Schluck aus seiner Tasse. „Hat sie sich irgendwie unwohl gefühlt oder so? Die Kleine hat da doch so ein Gespür für, oder?“
„Ich sag’s dir doch, sie hat nichts gesagt und wirkte nur überfordert mit mir …“
„Du bist ja auch ne Überforderung, man!“ Sehr hilfreich, danke Felix.
„… und wofür sie ein Gespür hat, sind imaginäre Monster in ihrem Zimmer und so ein Zeug wie Werwölfe und Vampire! Dieses ganze Fantasy-Zeug eben. Ich weiß gar nicht, woher sie das hat. Sie ist elf!“„Ja, ja, weiß ich doch, aber diese Viecher sind gerade groß im Trend, da kriegt man auch als Elfjährige was mit.“ Ja, im Trend. Konnte ich überhaupt nicht verstehen.
„Felix, es geht doch hier gerade gar nicht um irgendwelche Kreaturen, sondern darum, was mit mir los ist.“ Ich begann schon wieder in die Verzweiflung abzurutschen. Ich konnte dieses rote Glühen einfach nicht vergessen und das Schlimmste war – was ich nicht mal vor Felix zugeben konnte – ich wollte es wieder sehen. Das war das, was mich so ängstigte. Jede Faser meines Körpers schrie gerade danach, zurück in diesen Wald zu gehen und nach dem Glühen zu suchen. Ich war wirklich verrückt!
„Gar nichts ist mit dir los. Miles, hör mir zu, okay?“ Ich versuchte meine Konzentration auf meinen besten Freund zu lenken. „Nach der Schule – wirklich sofort danach – gehen wir beide zusammen in den Wald und suchen nach der beschissenen Ursache, okay?“
Ja! Ja! Bitte, unbedingt!
„Ich … bist du sicher?“ Ja, ich wollte zurück in den Wald, aber gleichzeitig graute es mich davor. Ich reagierte nicht mehr normal.
„Absolut. Wenn du dich dann besser fühlst, suche ich auch die ganze Nacht mit dir.“
Den kompletten Schultag lang konnte ich an nichts anderes mehr denken.
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Plötzlich Wolf
WerewolfMiles führt ein normales Leben. Er hat einen besten Freund und eine Familie, die ihn liebt. Eigentlich könnte er kaum glücklicher sein. Seine einzigen Sorgen sind die Anforderungen des letzten Schuljahres und die Frage, was er danach mit seinem Lebe...