Fragen und Antworten

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Am nächsten Morgen erwachte ich, weil sich etwas neben mir bewegte. Brummend drehte ich mich von dem leisen Geräusch weg. Müde!
Doch dann flüsterte jemand meinen Namen.

„Miles." Es war nicht Aaron, wie ich vielleicht vermutet hätte, sondern meine kleine Schwester. Sie kniete neben mir auf dem Bett und starrte mich mit schreckgeweiteten Augen an. „Miles, da liegt ein Junge auf deiner Couch!", sagte Merle und bemühte sich scheinbar, leise zu bleiben. Es gelang ihr nicht so recht. „Mama ist schon gegangen und Papa schläft noch. Soll ich ihn herholen, damit er den Jungen verjagt?" Nur mit Mühe konnte ich ein Kichern unterdrücken.

„Ist schon okay, Merle. Das ist Aaron. Lass ihn noch schlafen." Und mich bitte auch. Warum war meine Schwester nur so eine Frühaufsteherin?

„Ich bin wach", drang plötzlich eine verschlafene Stimme vom Sofa zu uns herüber. Merle drückte sich vor Schreck an mich und klammerte ihre Hände in meinem Shirt fest. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, neugierig zu dem Jungen herüber zu schielen. Ich folgte ihrem Blick und sah, dass Aaron sich aufgesetzt hatte und uns ebenfalls ansah. Er lächelte freundlich.

„Guten Morgen", sagte er.

Ich kam gar nicht dazu, es zu erwidern, denn plötzlich begann Merle mit ihrem Verhör. „Wer bist du? Und was machst du auf der Couch von meinem Miles?" Oho, jetzt stellte sie also schon Besitzansprüche, die Kleine. Irgendwie fand ich das ja niedlich. Und Aaron scheinbar auch.
Er grinste noch immer, antwortete aber in aller Seelenruhe: „Ich bin Aaron. Ich habe Miles gestern im Wald getroffen und weil ich nicht wusste, wo ich schlafen soll, hat er mich mit hergenommen."

Wenn er dachte, dass er so Merles Vertrauen gewann, hatte er sich getäuscht. Sie kniff die Augen zusammen.
„Wieso warst du im Wald? Sonst geht da nur mein Bruder so lange hin." Woher wollte meine Schwester bitte wissen, welche Menschen außer mir den Wald noch betraten? Ich konnte ja nicht der Einzige sein.

Ich blieb ruhig und schaute, wie Aaron sich in so einer Konfrontation verhielt. Er blieb gelassen, auch wenn er langsam in Erklärungsnot geriet.
Nach einem kurzen Blick auf mich fing er plötzlich an zu grinsen. Scheinbar hatte er einen Einfall.

„Weißt du, vorgestern war doch Vollmond und ich wollte schauen, ob ich vielleicht irgendwelche Spuren finde. Von einem Werwolf." Verdammt. Jetzt hatte er meine Schwester am Haken, dieser Mistkerl!
Sie ließ mein Shirt los und rutschte vor an die Bettkante.

„Hast du etwas gefunden?", fragte sie neugierig, mit großen Augen und sich überschlagender Stimme. Ich wusste nicht, was Aaron darauf erwidern würde und ich wollte es auch gar nicht wissen. Also mischte ich mich schnell in das Gespräch ein.
„Nein, hat er nicht. Ich bin ihm begegnet, bevor er lange suchen konnte und dann habe ich ihn gleich mitgenommen." Merle blickte mich bockig an. Na toll, jetzt hatte ich mich unbeliebt gemacht.
„Du hättest wenigstens mit ihm suchen können!" Ihre Stimme war anklagend.

Diesmal kam Aaron zu meiner Rettung.
„Wenn da Spuren waren, dann sind sie jetzt immer noch da. Während ihr beide nachher in die Schule geht, kann ich ja wieder in den Wald und weiter suchen. Wenn ich etwas finde, sage ich dir bescheid." Meine Schwester nickte zufrieden.
„Gut, abgemacht." Dann wandte sie sich an mich. „Miles, mach mir bitte Frühstück." Wenigstens konnte Madame bitte sagen.


Ich holte die Cornflakes-Packung vom Regal und drei Schüsseln aus dem Schrank. Die Blümchen-Schüssel samt Cornflakes-Packung stellte ich vor meiner Schwester ab. Sie war alt genug, sich selbst zu bedienen.

Mich beachtete sie jedoch gar nicht. Stattdessen unterhielt sie sich angeregt mit Aaron – über Werwölfe. Na prima.
Ich wusste nicht, wie er mit dem Thema gegenüber Menschen umging, also warf ich ihm sicherheitshalber einen strengen Blick zu. Er lächelte beruhigend.

„Ich würde so gerne mal einen echten Wolf sehen!", schwärmte Aaron an Merle gewandt, die das natürlich tatkräftig bestätigte.
„Ich glaube, die sind gar nicht so böse", verkündete sie, womit sie offensichtlich sogar Recht hatte.

Dem restlichen Gespräch hörte ich nur mit halbem Ohr zu, während ich Milch und Löffel holte.
Dann setzte ich mich und futterte Cornflakes, während sich die beiden noch immer unterhielten. Aaron hatte gestern Abend recht gehabt: Er und Merle verstanden sich wirklich prima.


Zwanzig Minuten später kam Dad in die Küche. Merle rief sofort aufgeregt: „Papa, Aaron glaubt auch an Werwölfe!"
Dad nickte nur, erwiderte aber nichts. Er nuschelte nur einen Guten-Morgen-Gruß und nahm sich dann etwas von dem Kaffee, den ich vorbereitet hatte. Er schien nicht mal überrascht, einen weiteren –fremden- Jungen in unserer Küche sitzen zu sehen.

„Dad, wenn du magst, kann ich Merle auch wieder zur Schule bringen. Dann kannst du dich noch ein wenig hinlegen." Soweit ich wusste war heute sein freier Tag, aber Dad schüttelte trotzdem den Kopf.

„Nein, schon gut. Nach gestern haben sich die Dienstpläne geändert. Ich muss sowieso bald ins Krankenhaus." Oh. Es kam häufig vor, dass sich kurzzeitig die Schichten meiner Eltern verschoben. Mittlerweile hatte ich aufgehört, nach den Gründen zu fragen.

„Ich will trotzdem mit Miles gehen!", rief meine Schwester jedoch. „Und mit Aaron! Papa, können die beiden mich zur Schule bringen?" Sie legte den Kopf schief. „Bitte?"

Sie wusste, dass sie gewonnen hatte. Von Dad bekam sie alles, was sie wollte, wenn sie nur lieb genug fragte. Sie war Daddys Liebling, was okay war, denn ich war Mums Liebling. Nicht dass die beiden tatsächlich einen von uns lieber mochten, aber Merle hatte eben größere Chancen, zu bekommen, was sie wollte, wenn sie Dad fragte und ich musste nur Mum lieb anlächeln.

„Wenn das für euch okay ist?", fragte Dad vorsichtshalber nochmal und als wir beide (beziehungsweise inklusive Merle alle drei) nickten, war es beschlossene Sache.

Dad wollte gerade die Küche verlassen, da drehte er sich noch einmal um.
„Ach und –Aaron, richtig? Sollen wir dich heute zum Abendbrot einplanen?"

Aaron sah mich fragend an, doch ich überließ ihm das Antworten. „Das wäre sehr freundlich, Sir. Danke." Dad schmunzelte.
„Du kannst mich Olli nennen."

Mum würde wesentlich mehr Erklärungen fordern. Was Dad an Misstrauen gegenüber Fremden fehlte, machte sie gleich doppelt wieder wett. Aber Dad war unkompliziert, was Aaron gerade zugutekam. Wäre Mum an seiner Stelle heute hier gewesen, hätte sie vermutlich erstmal seitenlange Berichte von ihm erwartet – und von mir ein Entschuldigungsschreiben gleich beigelegt.


Aaron und ich setzten Merle an ihrer Schule ab und dann begleitete er mich noch bis zu meiner. Wir redeten über Belangloses -er ging nicht mehr zur Schule, wie ich erfuhr- und verabredeten uns für nach der Schule. Aaron hatte angeboten, mich abzuholen, doch ich hatte abgelegt. Ich fühlte mich schon seltsam, weil er mich brachte. Ich kannte ihn noch keine 24 Stunden!
Stattdessen würde er vor meiner Haustür warten, meinen Schlüssel hatte er wiederum abgelehnt. War vielleicht auch besser so. Ich wusste selbst nicht so genau, was mich geritten hatte, einem praktisch Fremden meinen Haustürschlüssel anzubieten, aber ich wusste, dass ich ihm vertrauen konnte.

Als Felix sich dann kurz vor Stundenbeginn zu uns gesellte, verabschiedete Aaron sich und lieferte mich den Fragen meines besten Freundes aus.

„Wer war denn das?", fragte er und sah dem roten Schopf hinterher.
„Aaron. Hab ihn gestern im Wald aufgegabelt und bei mir pennen lassen. Merle hat sich in ihn verknallt und deswegen hat er uns zur Schule gebracht." Das war immerhin noch nah an der Wahrheit dran, auch wenn ich einige Dinge verschwieg. Erstmal wollte ich ihm noch nicht von dem wölfischen Teil in Aaron erzählen.

„Und? Ist er dein Typ?" Felix grinste schelmisch und wackelte mit den Augenbrauen.
„Spinner." Felix lachte. In Wahrheit hatte ich da noch gar nicht drüber nachgedacht. Ich war so von den Wolfsgeschichten eingenommen gewesen, dass ich allem anderen noch gar keine Beachtung geschenkt hatte – und eigentlich wollte ich da auch gar nicht drüber nachdenken. Ich wollte ein normales Leben und keinen Halbwolf als Freund. Allerdings konnte ich auch nicht leugnen, dass Aaron Saiten in mir zum Klingen brachte, von denen ich vorher nicht mal gewusst hatte, dass es sie gab. Er ließ mich einfach Dinge fühlen, die ich zuvor noch nie empfunden hatte und das verwirrte mich. Ich kannte diesen Jungen doch erst seit gestern Abend!

„Sag mir wenigstens, ob du den Kerl heiß findest."
Ich stöhnte auf. „Felix!" Doch es hatte keinen Sinn. Er würde sowieso nicht aufgeben. „Ja, okay. Er ist heiß. Und jetzt lass uns über etwas anderes reden."


Die Stillarbeit im Geschichtsunterricht nutzte ich nicht etwa dazu, die Aufgaben zu erledigen, sondern ich fertigte eine Liste an. Ganz oben schrieb ich „Werwölfe" und darunter zählte ich alle Fragen auf, die ich hatte und die ich Aaron nachher definitiv um die Ohren hauen würde.
Angefangen bei: „Wie fühlt sich eine Verwandlung an?" über „Wie groß ist ein Rudel?" bis hin zu „Ist Silber wirklich gefährlich?"

Weiter unten kamen dann die persönlichen Fragen. „Warum bist du hergekommen, Aaron?", „Gibt es noch andere Wölfe hier in der Nähe?" und „Warum bin ich kein Wolf?"

Es klingelte zur Pause und ich verstaute den Zettel in meiner Schultasche. Das hieß, ich wollte ihn verstauen, aber da riss Felix ihn mir schon aus der Hand.

„Wusste ich doch, dass du nicht Geschichte machst. So hastig hättest du niemals an Schulaufgaben geschrieben." Dann blickte er auf das Blatt und aus seinem Grinsen wurde ein entnervtes Stöhnen.

„Miles, nein. Das ist doch jetzt nicht dein ernst. Suchst du jetzt ernsthaft schon nach so schwachsinnigen Erklärungen für deinen dunklen Stalker?" Zu meinem Glück überflog Felix nur die ersten Zeilen, bevor er das Blatt kurzerhand in lauter Einzelteile zerriss. Ich war so sprachlos, dass ich nicht mal einen kleinen Laut des Protests heraus brachte.

„Was soll das, hm? Dein Wolf hat sich doch nicht nur an Vollmond gezeigt. Ich kann ja verstehen, dass du nach Antworten suchst, aber es bringt nichts, sich sowas aus dem Hut zu zaubern, okay? Außerdem hätte er dich längst in Stücke gerissen, wenn es wirklich ein Werwolf wäre. Mal abgesehen von Katis Lieblingsfilm sind diese Biester nämlich in allen Geschichten grausame Monster. Vermutlich ist das im Wald einfach ein übergroßer Hund, also bitte hör auf, über so einen Scheiß nachzudenken. Am Ende landest du wirklich noch in einer Klapse." Plötzlich verstand ich meinen besten Freund nicht mehr. Wieso wehrte er sich so strickt gegen den Gedanken? Ich meine, ja, natürlich, am Anfang hatte ich auch nicht daran geglaubt, aber hätte ich ebenfalls so heftig reagiert, wenn jemand nur die Vermutung eines Werwolfes geäußert hätte?

Wo war mein verständnisvoller bester Freund hin, der mir immer half, Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Der für jeden Weg offen war? Der, der bereit gewesen war, mit mir im Wald nach glühend roten Augen zu suchen?
In diesem Moment erkannte ich, dass ich Felix niemals die Wahrheit über Aaron würde erzählen können. Er würde es nicht verstehen. Ja, Felix würde alles für mich tun und er war dazu bereit, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, aber nur, solange es realistische Möglichkeiten waren. Möglichkeiten, die sich jeder normale Mensch erklären konnte. Nichts mit übernatürlichem Gedöns und so.

„War ja nur so ein Gedanke", murmelte ich also und wandte mich ab. „Merle hatte mich da nur auf so ne Idee gebracht, ich weiß doch eigentlich, wie bescheuert das ist."


Felix Verhalten hatte mich verletzt, auch wenn ich ihm gegenüber nicht erklären konnte, warum das so war. Also vermied ich das Thema Wolf für den Rest des Tages und war ganz erleichtert, als wir eine Stunde früher gehen durften. Jetzt brauchte ich erstmal Abstand.

„Soll ich noch mit zu dir kommen?", fragte Felix vor dem Schulgebäude, doch ich lehnte ab. Ich sei mit Aaron verabredet, sagte ich ihm und das reichte scheinbar auch als Erklärung. Er sah mich mit dem Grinsen an, das so typisch an ihm war und wünschte mir noch viel Glück. Mir war egal, was er jetzt denken mochte, Hauptsache ich hatte erstmal Zeit für mich.


Zuhause angekommen warf ich meine Schultasche achtlos in eine Ecke des Zimmers. Aaron hatte noch nicht vor meiner Tür gestanden – was nicht verwunderlich war, da ich eine ganze Stunde früher als verabredet heimkehrte.
Ich schnappte mir meine Jacke, die Laufschuhe und verließ im Eiltempo das Haus. Wenn ich nur die kurze Runde lief, würde ich pünktlich zurück sein, um Aaron nicht warten zu lassen.

Das Laufen im Wald nahm mir das beklemmende Gefühl, das ich seit der Geschichtsstunde empfunden hatte. Ich musste nicht darüber nachdenken, ich musste über gar nichts nachdenken. Auch nicht über das, was sich in den letzten Tagen in meinem Leben alles abgespielt hatte. Ich konnte einfach nur laufen. Laufen und frei sein.

Ich legte noch einmal an Geschwindigkeit zu und lief schneller und schneller. Als sei ich vor irgendetwas auf der Flucht – vor meinen eigenen Gedanken vermutlich, aber selbst soweit konnte ich gerade nicht mehr denken.

Die Bäume zogen an mir vorbei, in einer Geschwindigkeit, in der sie es nur selten taten. Mein Herz schlug schneller, meine Lungen kämpften um jeden Hauch Sauerstoff. Es war mir egal. Ich wollte nur noch einen kleinen Moment diese befreiende Leere in meinem Kopf fühlen. Es war so schön.


Ein Geräusch neben mir erweckte meine Aufmerksamkeit. Ich verlor nur wenig an Geschwindigkeit und blickte zur Seite. Welch ein Glück, dass ich diese Strecke so gut kannte und sogar blind laufen konnte. Meine Füße funktionierten auf Autopilot.
Und neben mir lief in derselben Geschwindigkeit ein großer, schwarzer Wolf. Aaron.
Er sah mich an und irgendwie konnte ich Sorge in seinem Blick erkennen. Vielleicht täuschte das auch nur. Mein Kopf funktionierte sowieso gerade nicht so richtig und mein Blickfeld war die ganze Zeit seltsam verschwommen.

Es war auch egal. Sollte er nur mitlaufen, wenn ihm das nichts ausmachte. Ich richtete meinen Blick wieder nach vorne, drohte jedoch zu stürzen, als der Wolf zur Seite ausscherte und meinen Weg kreuzte. Ich wäre tatsächlich gefallen, wenn Aarons wölfischer Körper mich nicht abgefangen hätte.

„Zur Hölle, Aaron! Was soll das verdammt noch mal?", fluchte ich. Was war nur heute mit allen los?

Aaron antwortete nicht, natürlich nicht, aber er wandte mir seinen Kopf zu und drückte seine Schnauze gegen meine Wange. In dem Moment bemerkte ich zwei Dinge. Zum einen, dass ich auf die Knie gesunken war und mich jetzt fast in Augenhöhe mit dem Wolf befand. Zum anderen, dass mir Tränen über die Wange liefen und das nicht gerade wenig. Ich weinte. Tat ich das etwa schon die ganze Zeit? Ich wusste nicht mal, warum ich überhaupt weinte.

Ich machte mir nicht die Mühe, mir die Tränen von der Wange zu wischen, sondern vergrub Gesicht und Hände gleich in dem schwarzen Fell vor mir. Aaron wehrte sich nicht und allein durch seine Anwesenheit ging es mir besser. Ich weinte nur noch, weil ich gerade die Möglichkeit dazu hatte und eben sowieso schon damit angefangen hatte.

Also krallte ich mich noch fester an dem Wolf fest und presste mich an ihn. Aaron entkam ein Laut, der mich stark an ein Winseln erinnerte, doch ich ließ ihn nicht los.
Jedenfalls solange nicht, bis meine Hände anstatt Fell Haut berührten.

„Kleiner, du schnürst mir die Luft ab", hauchte Aaron an mein Ohr. Augenblicklich löste ich mich von ihm.
Ich wollte schon protestieren und ihm sagen, dass ich nicht klein sei, entschied mich dann jedoch einfach für ein einfaches: „'tschuldigung."

Aaron –nun in Menschengestalt- strich mir über den Oberarm und dann über die Wange.
„Was ist los, Miles?", fragte er ruhig. Ich hatte das Bedürfnis zu reden, also redete ich, allerdings über etwas ganz anderes als ich selbst erwartet hätte.

„Was los ist? Du tauchst hier auf und stellst mein komplettes Leben auf den Kopf. Du bringst alles durcheinander und lässt mich dann mit einem Berg an Fragen sitzen. Du verwirrst mich und ich halte das nicht mehr aus. Ich will endlich Antworten!" Es war unfair und das wusste ich in dem Moment, als ich es aussprach. Ja, Aaron hatte mein Leben durcheinander gebracht, aber bisher war ich derjenige gewesen, der den Fragen ausgewichen war. Ich hatte nicht verwirrt werden wollen, ich hatte schlafen wollen, ich hatte lieber erstmal zur Schule gehen wollen und Aaron hatte all das schweigend hingenommen, obwohl sicherlich auch er einige Fragen hatte. Ich hatte mich selbst gequält und ließ all das jetzt an Aaron aus. Beschämt senkte ich den Blick.

„Entschuldigung, das wollte ich nicht sagen. Ich kann nur einfach wirklich nicht mehr. Das ist alles zu viel für mich." Erneut sammelten sich Tränen in meinen Augen und ich begann zu schluchzen. Aaron nahm mich in den Arm und ich schmiegte mich dankbar an ihn. Es war mir vollkommen egal, dass er nackt war, wichtig war nur, dass er da war. Bei mir.

„Wir werden über alles reden", flüsterte Aaron, während er mir beruhigend über die Seite strich. „Aber ich befürchte, das wird dich nur noch mehr verwirren. Oder dir Angst machen. So oder so wird es wahrscheinlich erst Recht zu viel für dich sein."

„Ist mir egal. Wir müssen darüber reden, sonst wird es die Unwissenheit sein, die mich fertig macht." Sie würde mich von innen zerreißen und das würde ich nicht aushalten.

„Es werden einige Veränderungen auf dich zukommen, Miles. Das muss dir bewusst sein." Ich hatte keine Ahnung, von was für Veränderungen er sprach, doch ich würde alles in Kauf nehmen, wenn sich nur endlich der Berg an Fragen verringern würde.
„Lass uns am besten zu dir gehen und da reden. Die Anziehsachen habe ich auf dem Weg versteckt."

Ich schmunzelte. Stimmt ja, er trug ja noch immer keine Kleidung. Wie am Tag zuvor reichte ich ihm meine Jacke und er legte sie sich auf dieselbe Weise um. Diesmal genierte ich mich nicht so und musterte ihn ohne zu zögern von oben bis unten.
„Du bist hübsch", rutschte es mir plötzlich über die Lippen und ich errötete doch. Das wollte ich eigentlich nicht sagen. Natürlich war es die Wahrheit, aber eigentlich sollte es ein Gedanke in meinem Kopf bleiben. Nun, sei's drum. Ich zuckte mit den Schultern. Ein paar Komplimente konnte jeder vertragen, sicherlich auch ein Aaron Lancon.

Ein Blick in sein Gesicht bestätigte das. Aaron grinste breit.
„Danke, das Kompliment gebe ich zurück." Auch ich grinste. Irgendwie konnte ich mit Aaron so umgehen, ohne dass es komisch wirkte. Selbst bei meinem Ex hatte ich Ewigkeiten gebrauch, Komplimente problemlos geben und annehmen zu können. Warum war es mit Aaron so leicht?


„Wieso warst du eigentlich hier?", fragte ich, während Aaron und ich uns auf den Weg zu seinem Kleider-Versteck machten.
„Ich habe gespürt, dass du aufgewühlt bist und vorsichtshalber nach dir gesucht." Ich wusste nicht, was ich zuerst frage sollte. Wie er es gespürt hatte, oder wie er mich fand. Mein Schweigen schien jedoch Bände zu sprechen, denn Aaron seufzte tief. Dann fing er an zu erzählen: „Wir sind verbunden, du und ich. Das ist auch der Grund, warum ich hier in der Gegend bin. Und durch diese Verbindung kann ich zum einen spüren, wie es dir geht, zum anderen spüre ich deine Gegenwart und finde dich immer und überall. Wenn ich das denn will. Andersrum funktioniert es genauso und obwohl dein Wolf unterdrückt ist, hast du es schon getan. Erinnerst du dich?"

„Ich war im Wald laufen und bin einfach nur meinem Gefühl gefolgt. So habe ich dich dann gefunden", erklärte ich tonlos. Ja, ich erinnerte mich daran, mir war jedoch bis eben nicht bewusst gewesen, dass es wirklich ich war, der ihn gefunden hatte. Ich hatte gedacht, das sei Zufall gewesen – oder von ihm beabsichtigt.

Aaron hielt kurz inne und sah mich an.
„Du bist merkwürdig ruhig. Ich hatte erwartet, dass du durchdrehen würdest, bei dem, was ich dir hier gerade erzähle."
„Ich drehe innerlich durch." Was nicht ganz die Wahrheit war. Irgendwie war mein Kopf leer. Es war alles zu schwammig, um irgendwelche klaren Gedanken fassen zu können. Irgendwie benommen.

„Tust du nicht. Ich kann das spüren, schon vergessen?" Jetzt war ich derjenige, der inne hielt.
„Aber du kannst nicht sowas wie Gedanken lesen, oder?" Aaron lachte, schüttelte aber zu meiner Erleichterung den Kopf.
„Nein, ich nehme nur die Emotion war, die gerade vordergründig ist und du bist ... gelassen. Vielleicht auch resigniert. Jedenfalls hast du gerade so eine ‚Ist mir egal'-Stimmung und ich weiß nicht, ob das gut ist, bei den Themen, die wir bereden müssen."

„Aaron, bitte. Ich bin doch einfach nur verwirrt. Ich weiß nicht mehr, was ich fühlen soll. Jedes Mal, wenn du da bist, dann ist da diese Neugier in mir. Und Freude und das Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und ... ich weiß doch auch nicht. Es fühlt sich alles einfach richtig an, dabei kenne ich dich doch gar nicht. Und das verwirrt mich und ehrlich gesagt macht es mir auch irgendwie Angst. Ich weiß nicht, was falsch mit mir ist", jammerte ich. Er wollte Emotionen? Da hatte er welche!

Aaron griff nach meiner Hand, was mich im ersten Moment zurückschrecken ließ.
„Das war übrigens kein Liebesgeständnis", stellte ich klar, nicht dass er hier auf falsche Gedanken kam. Aaron grinste bloß breit. Dann jedoch wurde er wieder ernster.

„Ich fühle dasselbe und ich bin damit genauso überfordert wie du, auch wenn das nach außen hin vielleicht nicht unbedingt den Anschein macht." Das tat es wirklich nicht. Aaron wirkte stets so, als hätte er die Kontrolle über einfach alles. „Das hat mit dieser Verbindung zu tun, von der ich gesprochen habe. Ich kann dir das alles erklären. Ich werde es dir erklären, nur bitte nicht hier."


Den Rest des Weges verbrachten wir schweigend. Ich hatte Aarons Hand losgelassen und er hatte nicht noch einen Versuch unternommen. Allerdings liefen wir sowieso sehr dicht beieinander, sodass sich unsere Arme fast berührten.

Unterwegs hielten wir an einem Strauch, Aaron zog einen Beutel darunter hervor und zog sich die Kleidung über, die ich ihm heute Morgen gegeben hatte. Ob er sie behalten durfte, wusste ich noch nicht - er hatte schließlich nichts anderes, aber ich trennte mich nur ungern von meinen Sachen.


Und dann saßen wir in meinem Zimmer. Beide im Schneidersitz auf meinem Bett mit einer Tasse Tee in der Hand und Aaron begann zu erzählen:

„Bei uns Wölfen gibt es eine spezielle Verbindung, die Mate-Verbindung. Mates sind Seelenverwandte, also Leute, die zusammen gehören. An seinem 17. Geburtstag findet jeder Wolf seinen oder seine Mate, es sei denn, der Mate ist älter und findet einen zuerst. Wenn ein Wolf seinen Mate gefunden hat, dann gibt es für ihn nur noch diese eine Person. Man könnte zwar theoretisch andere Partnerschaften eingehen, aber nichts würde sich echt anfühlen. Man würde nie wirklich glücklich werden, das kann man nur mit dieser einen auserwählten Person. Und das sind wir. Mates. Seelenverwandte. Nach meiner Zeremonie habe ich dich gespürt und gefunden. Ich fühle es und ich weiß, du fühlst es auch. Wir gehören zusammen und es gibt nichts, was wir dagegen tun können."

Ich schluckte. Das war ... unvorhergesehen. Bisher hatte ich vermutet, Aaron sei in diese Gegend gekommen, weil er einen anderen Wolf gespürt hatte. Nebenbei fühlte es sich für mich immer noch merkwürdig an, mich selbst als Wolf zu bezeichnen, wo ich doch ganz offensichtlich keiner war.
Dass Aaron jetzt allerdings hier war, weil er ... ja, was eigentlich? Was bedeutete diese Mate-Verbindung für mich und mein Leben?

„Ich weiß, das ist viel zu verarbeiten. Und es gibt noch so viel mehr darüber zu sagen. Was es bedeutet – für mich und mein Rudel. Diese Verbindung ist wichtig, Miles. Aber jetzt tauchen auch Probleme auf, mit denen ich vorher niemals gerechnet hätte und ich weiß nicht, was ich tun soll." Aaron wirkte ernsthaft verzweifelt. Es war das erste Mal, dass ich überhaupt irgendeine Art von Überforderung bei ihm wahrnahm.

„Was meinst du damit? Und von was für Problemen redest du?" Ich wollte ihm helfen, vor allem aber wollte ich mir selbst helfen, all das hier zu verstehen. Ich brauchte Informationen, so viele wie möglich. Aaron sollte mir Antworten liefern, nicht weitere Fragen.

„Also pass auf, ich bin zukünftiger Alpha meines Rudels, aber um diese Rolle wirklich übernehmen zu können, muss ich noch eine Sache tun. Meinen Mate markieren, heißt, ich müsste dich beißen." Ich schluckte und wich instinktiv ein Stück zurück. Der Gedanke, von einem Werwolf gebissen zu werden, sorgte nicht unbedingt für angenehmes Kribbeln in der Bauchgegend. Allerdings wusste ich nicht, ob mich die nächsten Worte beruhigen sollten oder nicht.
„Und das Problem ist jetzt, dass du kein wirklicher Wolf bist. Du bist mehr Mensch. Und Werwolfbisse sind ausnahmslos tödlich für Menschen."

Plötzlich WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt