Tischgespräche

2.5K 177 6
                                    

Pünktlich zum Abendessen kam Dad nach Hause. Mum hatte gekocht, Merle hatte ihr dabei geholfen und ich hatte mich mit Aaron in mein Zimmer verkrümelt.
Aaron hatte mich darauf hingewiesen, dass ich mir auch noch Zeit lassen könne. Dass ich es nicht heute schon aussprechen müsse. Aber meinen Entschluss änderte ich nicht. Ich wollte es nur so schnell wie möglich hinter mich bringen, auch wenn alles danach nur noch schwieriger werden würde.


„Erzähl mal Aaron. Wo kommst du her?", fragte Mum. Wir saßen zwar alle am Essenstisch, aber meine Mutter konnte es sich scheinbar nicht verkneifen, ihr vorhin unterbrochenes Verhör fortzuführen.

„Ich komme aus einem Dorf. Es ist sogar eher eine kleine Siedlung, nicht groß und jeder kennt jeden. Wir sind wie eine Familie." Von Aaron wusste ich schon, dass sein Rudel eines der größten und somit auch der mächtigsten war. Ich wusste auch, dass ihr Lager mehrere Kilometer von jeglicher Zivilisation entfernt mitten im Wald lag.

„Und wo gehst du zur Schule?"
„Ich selbst gehe nicht mehr zur Schule, ich übernehme ... das Familienunternehmen und werde momentan dafür ausgebildet. Aber für die Jüngeren besteht die Möglichkeit, in der nächsten Stadt eine Schule zu besuchen, wenn sie das wollen." Aaron blieb souverän, offen und war nicht aus dem Takt zu bringen. Meiner Mum würde er bald sympathisch sein – kurzfristig jedenfalls, wie mich das flaue Gefühl in meinem Magen erinnerte. Ich schaffte es kaum, einen Bissen zu essen.

„Was heißt ‚wenn sie das wollen'? Gehen etwa einige gar nicht zur Schule?"
„Oh doch, doch. Unterrichtet werde alle, nur werden die meisten zuhause unterrichtet. Von den Dorfältesten für gewöhnlich. Mittlerweile haben wir quasi unsere eigene Schule im Ort. Ich habe damals beides gehabt. Ich besuchte die Schule in der Stadt und habe zusätzlich Heimunterricht bekommen." Es war komisch, mir den Werwolf in einer ganz normalen Schule vorzustellen, mit normalem Unterricht, normalen Freunden und normalen Schulsorgen eben, auch wenn alles vermutlich ganz anders gewesen war als ich es mir gerade ausmalte.

„Du sprachst von deinem Familienunternehmen – was genau tut ihr?" Aaron lachte kurz und strich sich nervös über den Nacken. Aha, er war also doch aus der Ruhe zu bringen!
„Es ist weniger ein Unternehmen. Genau genommen sind wir für alle Belange der Dorfbewohner verantwortlich. Ähm, wie Bürgermeister oder so."

„Verstehe. Aber wenn du sagst ..."
„Mary, jetzt lass doch mal gut sein. Hast du den armen Jungen nicht genug verhört?" Mum warf Dad einen empörten Blick zu, verzog auf sein Grinsen aber ebenfalls die Mundwinkel.
„Verzeihung Aaron. Ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich weiß nur gern etwas über Personen, an denen mein Sohn interessiert ist."

Augenblicklich glich meine Gesichtsfarbe der einer Tomate. „Mum!", sagte ich empört, bekam aber nur eine halbherzige Entschuldigung von ihrer Seite und ein schelmisches Grinsen von Aaron. Der Rotton meines Gesichts intensivierte sich vermutlich gerade um ein Vielfaches.
Aaron strich mir einmal kurz über das Bein, dann widmete er sich wieder seinem Essen. Das hieß, zumindest so lange, bis Mum weitere Fragen stellte, weil Merle sie darauf hinwies, dass sie sich doch gar nichts über Aaron, sondern lediglich über sein Dorf angehört hatte.

„Und was machst du so in deiner Freizeit?", begann Mum also sogleich und Aaron ließ die Gabel wieder sinken.
„Ich bin viel im Wald", erklärte er. Nichts an seiner Stimme ließ darauf schließen, dass er sich wirklich lieber seinem Essen als diesem Verhör widmen würde. „Laufen und so."

„Ah, das ist ja schön. Dann hat Miles ja endlich jemanden, der ihn begleiten kann. Den Chris konnte er ja nie dazu überreden." Warum ging Mum eigentlich sofort davon aus, dass zwischen mir und Aaron irgendwas laufen musste? Konnte Aaron nicht einfach nur irgendein Freund sein?
„Wer ist Chris?", fragte Aaron auch sogleich und ich schloss ergeben die Augen. Heikles Thema, nicht weil es irgendetwas gab, das ich verschweigen oder vergessen wollte, aber vor Aaron hatte ich dieses Thema eigentlich noch nicht ansprechen wollen. Nicht so schnell.
„Mein Ex-Freund", brachte ich hervor, in der Hoffnung, das Thema möglichst schnell wieder fallen zu lassen. Chris und ich hatten eine schöne Zeit gehabt und wir waren im Guten auseinander gegangen, aber dieses Thema wollte ich jetzt noch nicht mit Aaron diskutieren – erst Recht nicht vor meiner Familie.

„Oh." Und dann herrschte Schweigen. Unangenehmes Schweigen und ich schloss resigniert die Augen. Deswegen hatte ich es nicht gewollt! Warum war das Thema Ex-Beziehungen eigentlich immer so schwierig? Chris und ich waren seit über einem Jahr auseinander – ich war schon wieder länger Single als ich mit ihm in einer Beziehung gewesen war – aber trotzdem verursachte das Thema bei den meisten Unwohlsein.
Konnten wir uns nicht wie erwachsene Menschen benehmen? Paare trennten sich, das kam schon mal vor. Da musste man kein großes Ding draus machen.

Allerdings wusste ich auch nicht, was ich hätte sagen können, um die Stimmung im Raum wieder zu lockern und ausnahmsweise rettet auch meine Mutter sich ins Schweigen. Hatte sie etwa ein schlechtes Gewissen, das Thema überhaupt auf den Tisch gebracht zu haben?


Es war schließlich Merle, die unser aller Aufmerksamkeit auf sich riss.
„Ich glaube übrigens nicht mehr an Werwölfe", platzte es aus ihr heraus. Alle Blicke wandten sich ungläubig zu ihr. Sie, die ein riesiges Wolfsposter in ihrem Zimmer hängen hatte, dazu die passende Bettwäsche und ein Kuscheltier und die seit einem halben Jahr Filme nicht ansah, wenn nicht wenigstens einmal das Wort „Lykanthrop" vorkam, sie war jetzt diejenige, die sagte, sie glaube nicht mehr an Werwölfe? Wenn Mum und Dad sie nun auf der Stelle ins Krankenhaus fahren würden, würde es mich nicht wundern.

Merle gab uns gar nicht die Möglichkeit nachzufragen, denn sie erzählte munter von selbst drauf los, als sei alles in Ordnung, als hätten wir die ganze Zeit schon über nichts anderes geredet und als würde sie darüber reden, wie schön doch das Wetter gerade sei.
„Ich war vorhin mit Aaron und Miles im Wald und wir haben nach Spuren gesucht. Überall. Aber wir haben keine gefunden, obwohl doch erst Vollmond war. Also heißt das, es gibt keine Werwölfe. Und die sind eh doof. Daddy, kaufst du mir Vampir-Bettwäsche? Die sind viiieeel cooler!"

Ein Lachen konnte ich mir nun nicht mehr verkneifen und es dauerte nicht lange, bis alle Anwesenden mit einstimmten. Wir lachten lange und ehrlich und glücklich. Keiner von uns hätte sagen können, warum wir lachen, es fühlte sich einfach nur gut an.
Ich schaffte es, mich als erstes zu beherrschen und beobachtete die anderen dabei, wie sie die ausgelassene Stimmung genossen. Dad, der einen Arm um Mums Schulter geschlungen hatte und Merle, die sich vor Lachen an mich presste und dabei fast von ihrem eigenen Stuhl fiel. Oh, sie würden mir so fehlen. Aber ich war schon immer so gewesen. Wenn ich einmal einen Entschluss gefasst hatte, dann zog ich das durch, koste es, was es wolle. Und jetzt bestand mein Entschluss darin, mit Aaron zu gehen und alles dafür zu tun, ich selbst zu werden.
Ich wollte diesen Moment nur noch etwas auskosten. Ein klein wenig. Ein letztes Mal so unbeschwert...



„Mum? Dad? Merle? Ich, ähm, also ich wollte noch etwas mit euch besprechen." Weniger besprechen und mehr verkünden, aber besprechen klang besser.
Mum, die gerade aufstehen und das Geschirr in den Abwasch stellen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne, verweilte eine Sekunde und setzte sich dann langsam wieder.

„Ist alles okay, Miles?", fragte Dad. Er klang besorgt. Verdammt. Das machte es doch nur noch schwerer!
Ich warf Aaron einen nervösen Blick zu und sein aufmunterndes Lächeln schenkte mir Kraft. Ich spürte unter dem Tisch, wie er seine Hand auf mein Knie legte. Das brachte mich schließlich auch dazu, zu reden.

„Ja, also, es ist alles gut. Es ist nur so ..." Ich holte tief Luft. Dieses Gespräch war ich so oft in meinem Kopf durchgegangen, warum fiel es jetzt so schwer, ein paar Worte auszusprechen? „Also ich bin ja schon 18, aber ich – ich weiß praktisch gar nichts über die Welt. Also, wir kamen ja her als ich fünf war und seitdem habe ich nie etwas anderes gesehen. Ich habe die Stadt nie verlassen und – und jetzt würde ich gerne andere Orte kennenlernen."

Dad schwieg. Mum hatte entsetzt die Augen aufgerissen. Merle griff nach meiner Hand.
„Was meinst du damit, Miles?", fragte meine kleine Schwester. „Ich verstehe nicht, was du sagen willst." Ich war mir sicher, sie verstand ziemlich gut, aber vielleicht hoffte sie, dass sie sich dieses eine Mal irrte. Dass sie ausnahmsweise nicht richtig lag.

„Ich möchte fortgehen. Dieses Wochenende. Und ich weiß noch nicht, wie lange ich weg bleibe." Merle klammerte ihre Finger noch fester um meine. Hätte sie übermenschliche Superkräfte, hätte sie mir jetzt einige Fingerknochen gebrochen. Meine Finger blieben heile, mein Herz brach beim Blick in ihr Gesicht. Sie weinte nicht, aber sie war kurz davor. Oh Merle!

Ich hätte es nicht so plötzlich sagen sollen. Ich hätte mir doch mehr Zeit nehmen sollen, alle langsam darauf vorbereiten und nicht plötzlich mit der Tür ins Haus fallen. Oh verdammt, was hatte ich mir nur dabei gedacht? Natürlich verletzte es sie! Wie hätte ich denn reagiert, wenn Merle von jetzt auf gleich gesagt hätte: „Ich verschwinde mal eben auf unbestimmte Zeit. Bye bye, wir sehen uns" und Tschüss, weg war sie.
Gut, ganz so plötzlich war es bei mir nicht. Aaron und ich würden in vier Tagen aufbrechen. Aber es war dennoch zu kurzfristig. Ich Trottel!

Es fragte niemand, ob ich es ernst meinte. Über sowas machte ich keine Witze, das wussten sie. Ich sah von meiner Schwester zu meinen Eltern. Mum hatte ihre Arme um ihren Oberkörper geschlungen, Dad hielt sich an der Tischplatte fest. Sie waren meine Eltern, ja, sie wussten aber auch, dass sie mich nicht aufhalten konnten. Rechtlich und persönlich nicht. Vor dem Gesetz war ich seit meinem siebzehnten Geburtstag alt genug, eigene Entscheidungen zu treffen und persönlich war ich zu stur, um mich von Entscheidungen abbringen zu lassen.

„Sowas muss wohl überlegt sein", begann mein Vater und meine Mutter fuhr dazwischen: „Du kannst doch nicht einfach so fortgehen! So plötzlich. Und ohne Vorbereitung. Wo willst du denn hin?"
„Ich muss das tun, Mum, bitte. Versuch mich zu verstehen. Ich fühle mich eingeengt. Ich brauche Freiheit und ich will endlich was erleben."

„Fühlst du dich von uns eingeengt? Ich meine, wir bieten dir doch alle Freiheiten. Du darfst alles machen, wir haben bisher jede deiner Entscheidungen unterstützt. Du hast nie Andeutungen gemacht, dass dir all das nicht genug ist. Wieso kommt der Wunsch so plötzlich?" Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Merle Aaron anstarrte. Es waren keine freundlichen Blicke, aber ich versuchte, mich auf meine Eltern zu konzentrieren, während ich meiner Schwester beruhigend über den Handrücken strich.

„Der Wunsch kommt nicht plötzlich, bisher habe ich es nur nicht so recht begriffen. Was meint ihr denn, warum ich täglich in den Wald gehe und laufe als hinge mein Leben davon ab? Ich möchte frei sein. Ich will nicht immer nur an einem Ort sein. Ihr wisst, dass ich früher oder später sowieso gegangen wäre."

„Aber doch nicht so plötzlich! Und was ist mit der Schule? Die wolltest du doch zu Ende machen." Das wollte ich, ja. Aber das war bevor mir eine Alternative geboten wurde. Das war bevor Aaron hier aufgetaucht war und mein Leben auf den Kopf gestellt hatte.
„Ihr wisst, dass mir dieses eine Jahr sowieso nicht mehr viel bringt." Mal abgesehen davon, dass ich nur noch zur Schule ging, weil ich keinen anderen Plan hatte. Wenn ich wüsste, was ich stattdessen machen wollte, wäre ich genau an meinem 17. Geburtstag dort verschwunden – oder ich hätte meine Eltern gebeten, mich noch früher abzumelden. Bis zur Volljährigkeit brauchte man schließlich deren Zustimmung, was bei meinen Eltern mit Zukunftsperspektive meinerseits auf keinen Fall ein Problem gewesen wäre. Die Schule vermittelte nur Allgemeinwissen, das mit steigender Klassenstufe einfach nur komplexer wurde. Entschied man sich schon vorher für eine bestimmte Richtung, wurde man speziell dafür ausgebildet, egal ob man dann nun achtzehn, fünfzehn oder elf war – nur entschieden sich halt die wenigsten schon mit elf für eine Richtung. Diejenigen, die es taten, traten für gewöhnlich in die Fußstapfen der Eltern.

Ich seufzte. „Mum, Dad, ich verdanke euch mein Leben. Hättet ihr mich damals nicht gefunden, wäre ich sehr wahrscheinlich tot. Und ich bin euch dankbar für alles, was ihr für mich getan habt. Aber jetzt lasst mich doch bitte das Leben leben, das ihr mir ermöglicht habt." Über den Tisch hinweg griff ich nach Mums Hand, meine andere wurde noch immer von Merles Fingern umklammert und sie schien nicht vorzuhaben, mich in nächster Zeit loszulassen.
„Ich hab dich lieb, Mum, ja? Das weißt du." Ich schaute von Dad zu Merle. „Ich habe euch alle lieb. Aber ich muss wirklich gehen. Ich brauche das für mich."


Wir hatten noch eine ganze Weile geredet und meine Eltern schienen nicht zufrieden zu sein. Aber zumindest verstanden sie mich und akzeptierten meine Entscheidung. Merle hatte nichts mehr gesagt. Sie war nur irgendwann auf meinen Schoß geklettert und hatte sich an mich gekuschelt. Aaron warf sie gelegentlich noch immer böse Blicke zu. Vermutlich gab sie ihm die Schuld an meinem Entschluss, womit sie nicht mal ganz Unrecht hatte, aber ich konnte ihr die wahren Hintergründe auch nicht erklären.

„Merle, ich hab dich ganz doll lieb", flüsterte ich, als ich neben ihr am Bett kniete und ihr durch Haar strich. „Und ich werde nicht für immer weg bleiben. Ich komme wieder. Versprochen."
Merle nickte und beugte sich dann vor, um sich ihren Gute-Nacht-Kuss zu holen. Sie sah mich schwach lächelnd an, drückte noch einmal meine Hand und schloss dann die Augen. Ich löschte das Licht in ihrem Zimmer und ließ sie schlafen.

Ich hörte Mum und Dad im Wohnzimmer reden, beschloss aber, sie für heute in Ruhe zu lassen. Sie hatten wohl erstmal einiges zu verdauen. Morgen könnte ich immer noch mit ihnen reden. Oder übermorgen. Oder den Tag danach. Dann wäre ich weg und ich konnte noch nicht sagen, wann ich zurückkehrte.
In meine Gedanken versunken lenkte mein Körper mich schließlich doch ins Wohnzimmer, wo ich mich schweigen zu Mum und Dad auf die Couch setzte und beide umarmte.

„Ich habe euch so so lieb. Und es tut mir leid, dass ich euch das antue." Ich musste ein Schluchzen unterdrücken. Mein Herz schmerzte und gleichzeitig zersprang es vor Aufregung. Ich war so hin und her gerissen, aber die Nähe von Mama und Papa tat gut. Hier bei ihnen zu sitzen, in den Armen beider, das gab mir Halt und Kraft und Mut.

Erst sehr spät löste ich mich von meinen Eltern, um ins Bett zu gehen. Nicht weil ich müde war, sondern weil mir einfiel, dass Aaron noch immer auf mich wartete.

Plötzlich WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt