Erklärungen

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Zuerst wollte ich lachen. Ich, ein Werwolf? Das war ja das Absurdeste, das ich je gehört hatte. Ich wüsste es doch wohl, wenn ich mich an Vollmond in ein Monster verwandelte!
Doch als ich Aarons Gesichtsausdruck sah, erstarb mir das Lachen in der Kehle. Der Kerl meinte es wirklich ernst.
Oh mein Gott, er war verrückt! Ich hatte einen Irren in mein Zimmer gelassen. Wieso war ich eigentlich überhaupt so unvorsichtig gewesen?

Solche Leute sollte man nicht verärgern, oder? Die galten doch als unberechenbar.
Bevor ich ihm also um die Ohren schlug, dass Wesen wie Werwölfe gar nicht existierten, versuchte ich die harmlosere Variante.
„Hör zu, ich habe gemerkt, dass du das glaubst und dass es dir ernst mit dem Thema ist. Aber halt mich bitte da raus. Ich glaube nicht an irgendwelche Kreaturen, die halb Mensch, halb Wolf sind. Für mich gibt es sowas nicht, ja?"

Aaron seufzte und stand auf. Er kam zu mir und setzte sich neben mich auf das Bett. Er hielt genügend Abstand, um mich nicht zu berühren, was ich ihm hoch anrechnete. Nähe konnte ich gerade gar nicht ertragen. Vor allem nicht die eines Verrückten.

„Miles, es ist wahr. Das alles. Werwölfe sind vielleicht nicht so, wie du sie in den Geschichten kennengelernt hast, aber sie existieren. Ich bin einer davon. Zukünftiger Alpha des Lancon-Rudels. Und du bist auch ein Wolf, selbst wenn du scheinbar nichts davon weißt." Aaron sprach ruhig und ließ mich die ganze Zeit nicht aus den Augen.
Ich hatte das Gefühl, er erwartete, dass ich durchdrehen würde. Diesen Gefallen tat ich ihm nicht. Rein aus Stolz blieb ich ruhig und sachlich.

„Angenommen es wäre wahr, was du da erzählst, warum weiß ich dann nichts davon. Ich würde es doch merken, wenn ich mich jeden Monat in einen Wolf verwandeln würde." Ich glaubte dem Kerl nach wie vor kein Wort. Das hieß: Doch, ich glaubte, dass er es glaubte, aber deshalb war es noch lange nicht wahr. Trotzdem beschloss ich erstmal, sein Spiel mitzuspielen. Ich war neugierig, wie er sich das alles erklärte.

„Das weiß ich auch nicht." Ah, ja, das war natürlich der beste Weg, unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen. „Zuerst einmal: Werwölfe verwandeln sich nicht nur bei Vollmond. Wir können unsere Verwandlung jederzeit kontrollieren, weil wir es schon von klein auf lernen. An Vollmond fällt uns die Kontrolle über die Wandlung zwar schwerer, aber mit genug Erfahrung ist auch das kein Problem. Wir können uns danach auch an alles erinnern, also es ist nicht so, dass man es einfach nicht bemerkt, wenn man sich verwandelt."

„Du sagst ‚von klein auf', also seid ihr schon als Kinder Wölfe?"

„Ja, wir haben es in unseren Genen, kommen also schon als Werwolf auf die Welt. Es kommt zwar nicht immer vor, aber es kann sogar passieren, dass schon Säuglinge sich verwandeln. Wir bezeichnen sie dann als Welpen. Für die meisten findet die erste Verwandlung jedoch mit fünf oder sechs Jahren statt. Die späteste Wandlung, die es in meinem Rudel gab, war bei einem kleinen Mädchen. Cami. Sie war neun, als sie sich das erste Mal verwandelte. Allerdings hat sie eine angeborene Krankheit und vorher war ihr Körper einfach zu schwach für die Verwandlung." Es klang nicht so, als würde Aaron sich das alles gerade ausdenken, doch das tat es bei Psychosen ja auch nicht, oder?

„Das erklärt aber noch nicht, warum ich mich nicht verwandle", erinnerte ich Aaron. Ich hatte schließlich keine angeborene Krankheit, ich neigte nur dazu, häufig zu erkranken.

„Zuerst habe ich angenommen, dass du ein Einzelläufer bist – was du definitiv bist, da du in keinem Rudel lebst. Einzelläufer haben häufig eine grausame Vergangenheit. In den meisten Fällen sterben sie und die wenigen, die überleben, versuchen dann, ihren Wolf ‚auszusperren' und sich nicht mehr zu verwandeln. Trotzdem wissen sie eigentlich, was sie sind." Für mich wurde es immer schwerer, zuzuhören, denn es klang alles so logisch und irgendwas in mir begann langsam, Aaron zu glauben.

Mein Gesichtsausdruck verriet jedoch scheinbar etwas anderes, denn Aaron grinste mich an. Es war ein schiefes Grinsen und er hatte seinen Kopf zur Seite geneigt. „Du glaubst mir kein Wort, oder?" Ich könnte ihm sagen, dass ich so langsam Zweifel an meiner Irren-Theorie hatte, aber das tat ich nicht. Ich blieb stur.

„Tut mir leid. Bei meiner Schwester würdest du da auf einer anderen Schiene fahren. Da müsstest du das Thema nur mal kurz in einem Nebensatz erwähnen und sie würde dir an den Lippen kleben und dich nie mehr gehen lassen." Aaron lachte.
„Ich glaube, deine Schwester und ich würden uns gut verstehen. Aber okay, lass mich versuchen, dich zu überzeugen. Der Wolf von dem du geredet hast, der mit dem schwarzen Fell und den roten Augen, das bin ich. Als ich dich das erste Mal gesehen habe, warst du im Wald joggen. Ich hatte mich im Unterholz versteckt und wollte dich nicht sofort mit meinem Auftauchen überfallen. Das zweite Mal war am Waldrand. Du bist dort mit deiner Schwester langgelaufen. Merle, oder? So hast du sie jedenfalls genannt. Ich glaube, du hast mich gesehen und dich ganz schön erschreckt, oder?" Aaron rieb sich verlegen über den Nacken.

„Nun ja, dann kamst du jedenfalls mit diesem Felix in den Wald, ich bin mir sicher, ihr habt mich gesucht, aber ich wollte mich nicht vor ihm zeigen. War auch gar nicht nötig, denn kurze Zeit später kamst du wieder in den Wald, um zu laufen. Ich hab mich dir extra langsam genähert, aber du hast mich gar nicht wahrgenommen. Erst als ich dir mitten im Weg stand, hast du mich bemerkt und bist hingefallen. Scheiße, wenn ich gewusst hätte, dass du gar keine Ahnung von Wölfen hast, dann hätte ich mich dir doch gleich als Mensch gezeigt! Du hast Panik bekommen und wolltest weglaufen. Ich habe versucht, dich zu beruhigen, aber du hast vor lauter Verzweiflung deinen Freund angerufen. Da habe ich gemerkt, dass es nichts bringt und dass ich dich nicht beruhigen kann. Nicht als Wolf jedenfalls. Also habe ich dich gehen lassen, habe mich in einen Menschen verwandelt, mir von der Wäscheleine in eurem Garten ein paar Klamotten geschnappt – sorry dafür übrigens – und habe dann bei dir geklingelt, um mit dir zu reden. Es war nur deine Mutter da und die wusste nicht, wann du wieder kommst. Und dann hast du dich mehrere Tage nicht im Wald blicken lassen. Ich wollte dir erstmal etwas Zeit geben. Ich habe gedacht, du musst das alles erstmal verarbeiten und habe daher auf dich gewartet. Und letzten Endes hast du mich dann gefunden. Du warst verschreckt, hast dich aber getraut, mich zu streicheln und das habe ich als Zeichen genommen, dass du mir endlich vertraust. Ich dachte, wir können endlich über alles reden, aber dann hast du mich jedes Mal so angeblafft, wenn ich von Wölfen geredet habe und Scheiße hast du mich damit verwirrt!"

Ich hatte ihn verwirrt? Es war doch wohl eher andersrum gewesen. Genauso wie jetzt. Mein Kopf explodierte gleich. Woher wusste Aaron das alles?
„Du könntest das beobachtet haben. Schließlich warst du auch im Wald, als ich den Wolf das letzte Mal gesehen habe", versuchte mein Kopf noch immer, die logischste, menschlichste Erklärung zu finden. Noch immer sträubte sich das meiste in mir dagegen, Aarons Geschichte zu glauben.

„Wenn das so wäre", fragte Aaron. „Warum hätte der Wolf mich dann die ganze Zeit ignoriert? Meinst du nicht, er hätte mich auch bemerkt?"
„Vielleicht galt sein Interesse ja nur mir?" Auch wenn diese Vorstellung etwas erschreckend war. Und laut Aarons nächsten Worten auch wahr.
„Tut es, aber das ist nicht der Grund, warum er mich nicht beachtet hat. Ich bin der Wolf. Ehrlich."

Nicht mein Kopf, nicht mein Herz, nicht mein Bauch, sondern irgendetwas zwischen alle dem glaubte Aaron mittlerweile. Und dieser Teil verlangte immer mehr nach Gehör. Er schrie in mir. Schrie, dass ich Aaron doch endlich glaube sollte, aber ich konnte doch nicht einfach so einem Verrückten trauen! Also verlangte ich einen Beweis.
„Verwandle dich."

Aaron starrte mich perplex an. „Wie bitte?"
„Verwandle dich. Wenn du willst, dass ich dir glaube, dann verwandle dich, jetzt und hier. Ich will es sehen. Du hast gesagt, du kannst deine Verwandlung jederzeit kontrollieren, also los." Aus welchem Grund zögerte Aaron denn jetzt? War das alles etwa doch eine erfundene Geschichte und er war gar kein Wolf? Hatte ich es doch gewusst!


Doch plötzlich stand er auf und stellte sich in genügend Abstand vor mich.
„Sorry, aber ich will nicht noch mehr deiner Klamotten kaputt machen." Ich überlegte, was er damit meinen könnte, doch plötzlich streifte er sich ohne Vorwarnung das Shirt über den Kopf. Es folgten Hose und auch Unterhose.
Mein Blick ging hastig zu meiner Zimmertür. Nicht dass ich erwartetet, gleich Besuch zu erhalten, aber der Gedanke, jemand könnte genau jetzt herein platzen, ließ meine Wangen erröten. Das wäre mehr als peinlich und ich würde definitiv einiges zu erklären haben, wenn plötzlich Mum oder Dad oder gar Merle in der Tür standen.

Im Haus regte sich nichts, doch als ich zurück zu Aaron schaute, hatte er sich schon verändert. Er war auf die Knie gegangen, stütze sich mit den Händen auf dem Boden ab.
Und dann geschah alles ziemlich schnell. Aus den Händen wurden Pfoten, dasselbe mit den Hinterläufen, ähm ... Beinen. Was? Die Ohren wurden länger und spitz. Das Gesicht verzog sich zu einer seltsamen Fratze und schon bald konnte ich die Gesichtszüge meines Wolfes darin erkennen.

Und dann stand er vor mir. Groß, schwarz und mit roten Augen. Der Wolf. Meinen Schrei unterdrückte ich nur, indem ich mir die Hände auf den Mund presste. Oh. Mein. Gott. Das konnte doch nicht wahr sein!
Aaron. Er hatte die Wahrheit gesagt. Er war der Wolf. Ein Werwolf.


Das Tier kam langsam näher. Ich wich nicht zurück, denn ich spürte, dass ich nichts zu befürchten hatte. Zu dem Wolf hatte ich schon Vertrauen gefasst, zu Aaron jetzt auch und als ich mir das eingestand, da wusste ich mit Sicherheit, dass Aaron mir niemals etwas antun würde – egal in welcher Form.

Er legte seinen Kopf auf meinen Schoß und schielte zu mir hoch. Selbst dieses eine Körperteil war riesig und das Gewicht lastete auf meinen Beinen. Zumindest wusste ich jetzt, warum er so groß war. Es war kein normaler Wolf, sondern ein Werwolf. Das Wort ging mir immer und immer wieder durch den Kopf. Obwohl ich es mittlerweile glaubte –etwas anderes blieb mir jetzt ja wohl auch nicht mehr übrig- hatte ich es dennoch noch nicht so recht begriffen. Werwölfe. Sie existierten wirklich. Merle würde durchdrehen. Und Kati, die auch. Und haufenweise anderer Leute.

Ich streckte die Hand aus und kraulte Aaron hinter den Ohren. Er seufzte zufrieden und schloss die Augen.



Ich hatte noch eine Menge Fragen. Aaron hatte sich mittlerweile zurück verwandelt, sich angezogen und auf mein Bett gesetzt. Theoretisch könnte ich meine Fragen also stellen und er würde sie auch ganz sicher beantworten. Aber morgen war nach wie vor Schule und es war schon spät. Wenn ich also den nächsten Tag irgendwie überstehen wollte, musste ich bald mal schlafen gehen und wenn ich Aaron jetzt auch nur noch eine einzige Frage stellte, würde ich damit gar nicht mehr aufhören und bekäme für den Rest der Nacht kein Auge zu.

„Aaron?", fragte ich also leise. „Ist es okay, wenn wir morgen weiter reden? Nach der Schule." Aaron sah mich an. Auch er hatte noch immer den Drang zu reden, das sah ich, aber er stimmte zu.
Er ging zum Sofa, kuschelte sich in die Decke und ich tat es ihm in meinem Bett gleich.

„Gute Nacht Miles. Schlaf gut."

„Danke, du auch." Obwohl mir noch so viele Fragen im Kopf rumschwirrten, dauerte es nicht lange, bis ich eingeschlafen war.

Plötzlich WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt