Flucht

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„Miles! Miles, verdammt, komm zu dir! Wir müssen hier weg!" Jemand rüttelte an meiner Schulter und ich schaffte es nur schwer, mich aus meiner Trance zu lösen. Langsam kehrte Klarheit in meinen Kopf und ich erinnerte mich an unsere Situation.

Aleksander hatte befohlen, mich zu töten. Ich musste hier weg! Ohne zu zögern drehte ich mich um und rannte davon, dicht gefolgt von Aaron und Tristan – nun beide in Wolfsform.
Alle anderen Gedanken schob ich für den Moment beiseite. Jetzt gerade war alles unwichtig.


Ich wusste nicht, wie weit es bis zur Grenze war, ich wüsste nicht mal, wann wir das Territorium verließen. Ich vertraute einfach darauf, dass Aaron und Tristan mich stoppen würden, sobald wir in Sicherheit wären.
Allerdings war es ein weiterer Weg als ich gehofft hätte, schon bald ging mir die Atemluft aus. Ich funktionierte nur noch auf Autopilot. Ich lief und lief, obwohl ich kaum noch Sauerstoff bekam, doch lange würde mein Körper das nicht mehr mitmachen.

Vor meinen Augen verschwamm alles, erst nur ganz leicht und aufblitzend, dann immer stärker und permanent. Doch ich durfte nicht stehen bleiben, ich durfte nicht ...
Die Wurzel bemerkte ich erst, als mein Fuß sich in ihr verfangen hatte. Eigentlich erstaunlich, dass ich jetzt erst stolpere, war komischerweise der einzige Gedanke, der mir in den Sinn kam, als ich auf den Boden segelte.

Ich konnte mich noch mit den Händen abfangen, lediglich ein kleiner Stein bohrte sich in meinen Handballen. Das war nicht schlimm, ich hatte sowieso schon einige Kratzer im Gesicht, weil ich nicht auf zu tief hängende Äste und Zweige geachtet hatte. Auch mein Fuß war offensichtlich nicht schwer verletzt, laufen könnte ich noch.

Könnte. Das Problem war nun, dass ich, einmal auf dem Boden sitzend, die Erschöpfung spürte. Meinen schweren Atem, das Stechen meines Kopfes und mein schnell schlagendes Herz. Meine Kehle brannte, meine Haare hingen mir schweißnass in der Stirn.

Ich zerrte den lästigen Rucksack von meinem Rücken -eigentlich war er nicht mal besonders schwer, aber in diesem Moment war er nur unnötiger Ballast- und nahm die fast leere Wasserflasche heraus.
Gierig trank ich die letzten Schlucke. Und seufzte. Schon besser!

Tristan und Aaron standen neben mir, warteten ungeduldig darauf, dass es weiter ging, doch ich schüttelte leicht den Kopf.
„Ich kann nicht mehr." Auch wenn das Wasser für ein wenig Erfrischung gesorgt hatte, erschöpft war ich dennoch. Außer Atem und müde. Ich konnte wirklich nicht mehr.

Aaron zog ungeduldig an meinem Shirt, drängte mich dazu, weiter zu laufen. Ich schloss die Augen und seufzte.
„Woher wollen wir wissen, dass wir außerhalb der Grenze in Sicherheit sind? Sie könnten uns doch weiterhin verfolgen!" Tristan schnaubte, Aaron schnappte nur wieder nach dem Saum meines Shirts und zog daran. Es war mehr als offensichtlich, was beide verlangten.

„Aaron, kannst du mir garantieren, dass wir außerhalb der Grenze sicher sind?" Ohne zu zögern warf er den Kopf auf und ab, was ich deutlich als Nicken verstand. Ich seufzte noch einmal, rappelte mich dann aber ergeben auf und nutzte meine letzten vorhandenen Kraftreserven, um weiterzulaufen.

Dieselbe Geschwindigkeit wie vorher erreichte ich bei weitem nicht, aber wir kamen voran und Tristan und Aaron drängten nicht weiter. Ich bemerkte, dass Tristan immer wieder einen Blick nach hinten warf und stets die Ohren gespitzt hielt. Er blieb vergleichsweise ruhig, also schien die Bedrohung noch nicht näher zu kommen – für einen Moment jedenfalls. Dann vernahm ich in der Ferne aggressives Wolfsgeheul und das von mehr als einem Wolf.

Ich bekam es erneut mit der Angst zu tun und schaffte es tatsächlich, noch einen Zahn zuzulegen, dem Adrenalin sei Dank.
Ich konnte nicht sagen, wie lange wir liefen, ich konnte auch nicht sagen, wie schnell uns die Ken-Krieger näher kamen, aber nach einer Weile erreichten wir den Waldrand, hinter dem uns ein Moor erwartete.

Aaron, der voran lief, drosselte sein Tempo ein wenig und ich musste aufpassen, dass ich auf dem aufgeweichten Boden nicht schon wieder stürzte. Wir entfernten uns zehn Meter von dem Wald. Fünfzig, hundert, mehr. Und dann wurde Aaron noch langsamer, bis er schließlich ganz stehen blieb. Ich hinterfragte es nicht, war nur erleichtert für die Atempause. Ohne nachzudenken ließ ich mich auf den Boden sinken, stützte meinen Kopf gegen Aarons Flanke und atmete erleichtert durch. Nochmal würde ich nicht aufstehen. Wirklich nicht.

Ich sah zu Tristan, der wiederum starrte in Richtung Wald. Als ich seinem Blick folgte, konnte ich zwischen den Bäumen Gestalten ausmachen. Wölfe!
Allerdings folgten sie uns nicht. Sie standen nur am Waldrand und sahen uns an, keiner von ihnen verließ den Schutz der Bäume.
„Dort endet ihr Territorium", erklärte Aaron, der sich gerade zurück verwandelt hatte und mir damit meine tolle Stütze nahm. Ich murrte, doch Aaron zog mich sofort in seine Arme und ich betete meinen Kopf an seiner Brust. Das war sogar noch entspannter!

„Warum folgen sie uns nicht? Jetzt wären wir ihnen doch ausgeliefert", fragte ich erschöpft. Meine Stimme war brüchig, schwach, müde. Die Wölfe drehten langsam um, kehrten einer nach dem anderen in den Wald zurück.

„Es ist absolut verboten, einen Wolf auf territoriumsfreien Gebieten zu jagen", erklärte Aaron. „Aleksander wird nicht riskieren, den Zorn aller Rudel auf sich zu ziehen. Hätte er uns hingegen noch in seinem Territorium erwischt, wäre das lediglich eine Sache zwischen den Ken und den Lancons gewesen – auch wenn ihm das selbstverständlich keine Pluspunkte im Ansehen gebracht hätte. Aber letzten Endes hätten die anderen Rudel nichts unternehmen können. In seinem Gebiet kann ein Alpha tun, was er will."

Ich erschauderte. Alles tun, was er will. Sogar eine Wölfin töten, die gerade sein Kind bekommen hatte.
Es fröstelte mich und ich schlang die Arme um meinen Körper. Aaron strich mir über die Seite, er spürte, wie es mir ging.
„Miles? Meinst du, du schaffst es noch ein kleines Stück?" Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich war ausgelaugt.

Ich bekam das Gespräch zwischen Aaron und Tristan nicht mehr vollständig mit. Ich verstand noch irgendwas von Summer und Hilfe und Ruhe, bevor mich die Erschöpfung in eine sanfte Bewusstlosigkeit trug.



Als ich wieder zu mir kam, war es schon dunkel. Ich konnte das Mondlicht durch das Blätterdach über mir erkennen. Dass da plötzlich Bäume waren, realisierte ich nicht, denn mich packte plötzlich die Angst, als ich das Geräusch von Wölfen hörte. Mehrere Wölfe rund um mich herum.

Ich strampelte mich von einer Umklammerung los und wäre dabei fast von Tristans Armen gefallen. Gerade noch so konnte er mich halten.
„Miles, Miles, es ist alles gut! Beruhige dich", sagte er eindringlich. Er wiederholte die Worte so lange, bis ich still hielt und mich stattdessen nach Aaron umsah. Wo war er? Was war hier los?

Direkt neben Tristan lief ein großer, schwarzer Wolf, der mich durch rote Augen musterte. Ich seufzte erleichtert. „Aaron." Ich streckte die Hand nach ihm aus, was in dieser Position unbequemer war als ich gedacht hätte. Doch es beruhige mich, durch Aarons Fell zu streicheln.

Ich strampelte wieder, leichter aber und diesmal ließ Tristan mich runter. Wir waren stehen geblieben und ich hatte die Möglichkeit, die weiteren drei Wölfe um uns herum wahrzunehmen. Mein erster Impuls war Flucht, doch den unterdrückte ich. Erstens, weil ich sowieso viel zu schwach war und Tristan mich noch immer stützte, damit ich nicht fiel. Zweitens, weil Aaron und Tristan ruhig wirkten, nicht angespannt oder bedroht. Waren das hier Wölfe, denen wir vertrauen konnten?

Ich musterte die Tiere, keinen von ihnen erkannte ich. Da war einer mit rotbraunem Fell, einer mit einem dunklen Braun und ein Grauer. Zwei Blauäugige, einer mit goldener Iris. Fragend schaute ich zu Tristan.
„Wir sind im Summer-Territorium. Sie helfen uns", erklärte er sofort und ich nickte. Okay, wir waren in Sicherheit, das war alles, was für mich gerade zählte.

Aaron kam näher und drückte mich mit dem Kopf in Richtung Tristan, dabei winselte er leise, als wolle er irgendwas sagen. Wieder schaute ich zu Tristan. Es war irgendwie traurig, dass er meinen Mate besser verstand als ich.
„Bis zum Summer-Lager ist es noch ein Stück, Miles", sagte Tristan und ich verstand, was er meinte.
„Du musst mich nicht tragen, ich kann gehen", verkündete ich und trat einen Schritt von ihm zurück, um es zu beweisen.

Allerdings hatte ich die Rechnung ohne den stechenden Schmerz in meinem Knöchel gemacht. Autsch! Woher kam das denn?
Ich wäre fast gestürzt, doch Tristan hatte mich abgefangen. Nun lag ich doch wieder in seinen Armen, mit Aaron an meiner Seite, der seine Schnauze auf meine Schulter drückte.

„Als du im Ken-Territorium gestürzt bist, hast du dir scheinbar den Knöchel verstaucht. Das Laufen danach hat es nicht besser gemacht. Wir bringen dich zu den Summers, da kümmert man sich um dich", erklärte Tristan und Aaron neben mir winselte. Ich strich ihm beruhigend durchs Fell und nickte schließlich. „Okay."

Tristan stand mit mir im Arm auf. Ich kippte gegen seine Brust und in dem Moment spürte ich die Erschöpfung auch wieder in mir aufkommen. Wenn er mich sowieso trug, dann konnte ich doch auch nochmal die Augen zumachen, oder? Nur für einen ganz kurzen Moment ...




„Außerdem hat er Fieber", sagte jemand. „Er muss in letzter Zeit viel Stress ausgesetzt gewesen sein." Jemand hielt meine Hand, drückte sie nun fester und ich schaffte es, die Augen zu öffnen.
Als erstes bemerkte ich die Frau, die am Bettende stand und mich sanft anlächelte. Dann sah ich Aaron neben mir auf dem Bett sitzen. Er war derjenige, der meine Finger umklammerte.

„Aaron", sagte ich schwach. Mein Mund fühlte sich trocken an, meine Kehle schmerzte und in meinem Kopf herrschte ein permanentes Pochen.
Aaron strich mir ein paar Strähnen aus der Stirn. Er lächelte mich an.
„Hey, wie geht es dir?", fragte er mit ruhiger, wiegender Stimme. Ich könnte glatt wieder einschlafen.
„Müde", antwortete ich ehrlich.

Dann deutete ich in Richtung der Frau. „Wer ist sie?" Es kam mir gar nicht in den Sinn, sie persönlich zu fragen. Ich wollte Aarons Stimme hören, nicht ihre, aber dennoch war sie es, die antwortete.
„Mein Name ist Penelope Summer. Ich bin Heilerin dieses Rudels", stellte sie sich vor. „Aaron hat dich hergebracht, weil du immer wieder das Bewusstsein verloren hast. Außerdem hast du einen verstauchten Knöchel, aber der wird schnell heilen, das verspreche ich dir. Du brauchst nur Ruhe."

Ich richtete mich ein wenig auf, mein Kopf dankte es mir mit einem stechenden Schmerz. Ich presste mir einen Handballen gegen die Schläfe und kniff die Augen zusammen, dabei merkte ich nur nebensächlich, wie Aaron mich vorsichtig wieder zurück ins Kissen drückte.
„Bitte bleib liegen", hauchte er leise und ich gab nur einen zustimmenden Laut von mir. Ja, ich würde mich definitiv nicht mehr bewegen, solange diese Schmerzen nicht nachließen.

„Entschuldigung, das Schmerzmittel dauert ein wenig, bis es wirkt, aber dafür ist es effektiv, ich verspreche es." Penelope lächelte mich entschuldigend an und ich murmelte nur ein leises: „Okay."
Ich schloss die Augen und versuchte wenigstens, meine Gedanken wieder zu ordnen. Was war geschehen?

Langsam kamen die Bilder zurück in mein Bewusstsein und damit auch die Erinnerungen an den vergangenen Tag. Die Ken, die uns gejagt hatten, Aleksander, der ... der ...
Mein Atem beschleunigte sich. Mein Vater hatte meine Mutter getötet. Er war an allem schuld! Er hat mich töten wollen und ...

Aaron strich mir beruhigend über die Wange.
„Miles, hey, ganz ruhig. Du darfst dich nicht aufregen, bitte. Es geht dir nicht gut." Er hörte nicht auf, mich zu streicheln, die eine Hand an meiner Wange, die andere an meinen Fingern. Ich hielt die Augen geschlossen, versuchte aber diesmal, mich nur auf Aarons Stimme zu konzentrieren. Es half bedingt. Die Bilder verschwanden zwar nicht, aber ich schaffte es, ruhiger zu atmen.

Ich rückte ein Stück zur Seite und zupfte an Aarons Shirt. Eine stumme Aufforderung, der er sofort nachkam. Er legte sich neben mich auf das Bett und schlang seine Arme um mich, sodass ich mich an ihn schmiegen konnte. Seine Nähe war so wohltuend!
Ich hätte über dieses warme Gefühl hinweg fast wieder einschlafen können, doch da waren immer noch so viele Fragen in meinem Kopf.

„Was ist passiert, Aaron?", fragte ich als erstes, obwohl ich das meiste davon kannte. Aaron erklärte ruhig und entspannt, als läse er eine Gute-Nacht-Geschichte.
„Wir mussten vor den Ken fliehen, weil sie dich töten wollten. Du bist über eine Wurzel gestürzt und hast dich dabei verletzt. Trotzdem kamen wir noch rechtzeitig aus dem Territorium raus, die Wölfe haben uns nicht weiter verfolgt. Du warst so erschöpft, dass du bewusstlos geworden bist. Tristan und ich haben beschlossen, zu den Summers aufzubrechen, weil wir Hilfe brauchten. Du warst nicht ansprechbar, deshalb haben wir dich getragen. Zwei Mal kamst du währenddessen zu Bewusstsein, beide Male warst du mehr oder weniger orientierungslos. Schließlich kamen wir im Lager an und Penelope hat sich sofort um dich gekümmert. Sie hat deinen Fuß verarztet und festgestellt, dass dein Körper ziemlich unter dem Stress zu leiden hatte. Nicht nur der Stress von dieser Reise, sondern alles.
Verdammt, Miles, es tut mir so leid. Ich habe dich in dieses Leben gezerrt und nicht eine Sekunde daran gedacht, was das in dir auslösen könnte!"

Er klammerte sich an mir fest, suchte Halt, den ich ihm nur zu gerne gab.
„Es ist alles okay", hauchte ich. „Mir wird es wieder besser gehen. Ich brauche einfach etwas Ruhe." Das hatte Penelope doch gesagt, oder? „Nur ... können wir trotzdem reden?"
„Jetzt?"
„Ja." Ich musste diesen Berg an Gedanken einfach loswerden.
„Okay."

„Aleksander ist mein Vater." Aaron seufzte, was ich nur merkte, weil ich so dicht bei ihm lag.
„Ja, danach sieht es aus."
„Er hat meine Mutter getötet und versucht, auch mich zu töten."
„Du hast eine bessere Familie verdient. Es tut mir so leid für dich." Das musste es nicht. Ich hatte mich früh damit abgefunden, meine leiblichen Eltern vielleicht niemals kennenzulernen. Das war okay, ich hatte meine richtige Familie, Mum und Dad und Merle. Ich brauchte keine anderen Eltern. Mein Problem war ein gänzlich anderes.

„Ich kann kein Wolf werden." Die einzige Chance bestand darin, von meinen leiblichen Eltern akzeptiert zu werden. Die eine war tot, der andere wünschte, ich wäre tot. Damit war jede Möglichkeit, meinen Wolf zu aktivieren dahin. Ich würde niemals Ich sein können. Aaron könnte seine Alphazeremonie nicht vollenden. Ich schluckte. Jetzt war alles verloren.

Aaron drückte mich noch fester an sich, nahm mir damit fast die Luft zum Atmen. „Wir finden einen anderen Weg", sagte er. „Und wenn nicht, dann ist das auch nicht so schlimm. Dann wird Lia Alpha und wir beide sind normale Rudelmitglieder. Oder wir gehen zurück zu dir nach Hause. Wie du magst." Ich schloss die Augen. Da war der Aaron, von dem Tobias erzählt hatte. Der, der alles für mich aufgeben würde. Ich konnte nicht sagen, dass mir das gefiel, aber eigentlich hatten wir doch auch gar keine andere Wahl. Lia würde Alpha werden müssen, daran führte nun kein Weg mehr vorbei. Es tat mir im Herzen weh, ihr das antun zu müssen.

Aaron strich mir über die Seite, lenkte meine Konzentration wieder auf sich. „Mach dir jetzt nicht so viele Gedanken. Wir kümmern uns um alles, sobald es dir besser geht."
„Ich bin oft krank. Das wird schon wieder", erklärte ich beruhigend. Bevor ich Aaron kennenlernte, hatte ich schließlich fast regelmäßig irgendwelche Beschwerden. Fieber und Schmerzen waren da keine Seltenheit.

„Was hattest du?", fragte er nach einem Moment der Überraschung.
„Allgemeine Beschwerden. Meist waren es Gliederschmerzen, Hitzeanfälle und Migräne. Das dauerte für gewöhnlich ein, zwei Tage an und dann ging es wieder. Es kann also sein, dass das hier einfach nur einer dieser Anfälle ist. Es muss gar nicht unbedingt an dem Stress liegen." Mein letzter Anfall lag immerhin schon eine Weile zurück, ich hatte den Überblick verloren.

„Oder diesmal ist es beides. Der Stress hat deine Anfälle wieder ausgelöst?", philosophierte Aaron, dann schwieg er einen Moment, bevor er hinzufügte: „Wann hattest du diese Beschwerden?"
„Unterschiedlich. Ein, zwei Mal im Monat. Alle paar Wochen eben, wieso?"
„Heute ist Vollmond." Ich schieg. Ja, und? Was hatte der Mondzyklus damit zu tun?

„Auch wenn wir Wölfe uns an Vollmond beherrschen können, haben wir doch eine gewisse Anziehung. Die meisten Welpen haben ihre erste Verwandlung in einer Vollmondnacht. Der Mond bringt unseren Wolf zum Vorschein. Vielleicht ... vielleicht versucht dein Wolf auszubrechen?", schlug Aaron vor. Er wirkte selbst unsicher, aber da könnte tatsächlich etwas dran sein. Bisher hatte ich nie darauf geachtet, weil es auch manchmal kurz vor oder kurz nach dem Vollmond geschah – manchmal sogar im Abstand von einer Woche, aber wenn ich genauer darüber nachdachte, könnte es hinkommen. Es könnte sein, dass meine Anfälle immer in Vollmondnähe auftraten.

„Warum ist mir das vorher nie aufgefallen?", fragte ich an mich selbst gerichtet. Ich konnte mich natürlich nicht an jeden einzelnen Anfall erinnern, ich wusste auch nicht mehr genau, wann ich sie hatte, mal waren sie stärker, mal schwächer, aber ich erinnere mich beispielsweise an eine Nacht, in der Mum und Dad mich ins Krankenhaus fahren mussten, weil ich mich vor Schmerzen und Krämpfen kaum noch bewegen konnte. Ich habe geschrien, um mich geschlagen, getreten und ließ mich nicht beruhigen. In dieser Nacht hatte der Vollmond hoch am Himmel geschienen und als ich ihn angesehen hatte, war ich augenblicklich ruhig geworden, sodass Dad mich zum Auto tragen konnte.

Ich erzählte Aaron davon und er schmunzelte. „Klingt so, als hätte da tatsächlich dein Wolf rebelliert." Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte oder nicht. Auch wenn die meisten Anfälle eher harmloser Natur waren, gab es doch Momente, in denen ich mir einfach nur gewünscht hatte, es würde endlich aufhören. Es war nicht schön gewesen.


Noch bevor ich etwas erwidern konnte, klopfte jemand vorsichtig an die Tür. Ich schaute mich nach Penelope um, die mir erst jetzt wieder in den Sinn kam, doch sie hatte das Zimmer scheinbar schon vor einer Weile verlassen.
Die Tür wurde geöffnet und ein Junge kam herein. Helles Haar, blaue Augen und ein freundlicher Blick. Sein Lächeln wurde breiter, als er uns sah.

„Hey Aaron", grinste er und Aaron wäre sicherlich aufgesprungen, wenn ich mich nicht noch immer an ihm festgekrallt hätte.
„Jack? Oh mein Gott, hey! Schön, dich zu sehen!", rief er erfreut aus und ich starrte verwundert zwischen den beiden hin und her.
„Als hättest du nicht erwartet, mich zu treffen, als du hergekommen bist", feixte der Junge und ich musterte ihn misstrauisch. Aaron hatte ich losgelassen, damit er diesen Jack begrüßen konnte ... mit einer Umarmung.

„Penelope sagt, ihr könntet noch etwas zu essen vertragen." Der Junge stellte ein kleines Tablett auf einem kleinen Tisch ab und reichte mir dann die Hand. „Hallo, ich bin Jack", stellte er sich nun vor und ich erwiderte den Gruß nur widerwillig.
Aaron kam zurück zu mir aufs Bett, blieb diesmal aber an der Kante sitzen. Jack setzte sich auf einen Stuhl gegenüber, sodass die beiden sich ansehen konnten.

„Und? Wie ist es so als Alpha?", fragte Jack. „Tut mir leid, dass ich bei der Zeremonie nicht dabei sein konnte, du weißt ..." Aaron nickte und begann dann, von seinen Pflichten zu erzählen und von der riesigen Verantwortung, die ja nun auf seinen Schultern lastete. Dass er mit keinem Wort erwähnte, dass seine Zeremonie noch gar nicht vollendet sei, verletzte mich genauso sehr wie es mich erleichterte. Dass er es nicht sagte hieß, dass scheinbar selbst gute Bekannte es nicht wissen durften, weil es möglicherweise zu gefährlich war, weil man ihn anzweifeln könnte, oder was auch immer. Und das war meine Schuld. Andererseits wollte ich aber auch nicht die Aufmerksamkeit des Jungen auf mich lenken und ich wollte auch nicht, dass Aaron es tat. Ich war froh, hier zu liegen und den beiden stumm zuzuhören, auch wenn da immer noch dieses seltsame Stechen in der Magengegend war. Die beiden gingen so unbeschwert miteinander um.

„Ich habe mich schon mit Tristan unterhalten", sagte Jack da. „Er meint, Henry hätte deinen Mate angegriffen?" Dabei sah er mich an. Sein Ton klang irgendwie bedauernd. Vielleicht auch enttäuscht. Aaron seufzte.
„Ja, er wird noch eine Menge lernen müssen." Jack wandte den Blick wieder von mir ab, lächelte aber kurz, freundlich irgendwie. Trotzdem machte ihn das in meinen Augen nicht sympathischer.
„Was sagen Mum und Dad?", erkundigte sich Jack, was mich nur noch mehr verwirrte.

„Was?" Es war das erste Mal, dass ich in Jacks Gegenwart sprach und dabei war mir dieses Wort nur aus Versehen heraus gerutscht. Die Aufmerksamkeit beider Wölfe richtete sich auf mich. Jack räusperte sich.
„Oh, verzeih", sagte er, dann stellte er sich noch einmal vor: „Ich bin Jack Blancher. Henry ist mein Bruder." Und dann machte es auch bei mir Klick. Daher kannten sich Aaron und Jack. Sie kamen aus demselben Rudel – und ihrem Umgang nach zu urteilen, waren sie sogar Freunde gewesen.

Vorsichtig setzte ich mich auf. Meinem Kopf ging es besser, scheinbar wirkten die Schmerzmittel endlich.
„Du warst ein Lancon-Wolf?", vergewisserte ich mich und Jack nickte. „Also hast du für deine Mate das Rudel gewechselt?", schlussfolgerte ich. Im richtigen Licht konnte Jack tatsächlich wie 17 aussehen.

Er lächelte. „Meinen Mate, aber ja."
„Oh." Das Gefühl in meinem Magen wurde nicht gerade besänftigt. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Jack hatte einen Mate, er war vergeben, alles war gut. Aaron hatte auch einen Mate, nämlich mich. Es gab keinen Grund, sich aufzuregen.
Jack gluckste kurz, verabschiedete sich dann aber. „Ich glaube, ich lasse euch beide mal wieder allein. Ihr braucht sicherlich Ruhe. Gute Besserung, Miles."

Plötzlich WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt