Wie Aaron vorhergesagt hatte, erreichten wir am nächsten Abend schon das Territorium eines Moor-Rudels. Die Martins, wie mir gesagt wurde. Aaron beschrieb sie als zurückhaltend, aber freundlich und dennoch überquerten wir die Grenze nicht mehr bei Nacht. Wir schliefen erneut in einem territoriumsfreien Gebiet und betraten erst nach Sonnenaufgang das Martin-Territorium.
Wir hielten uns in der Nähe der Grenze auf, Aaron wich nicht von meiner Seite und schickte Tristan nur ein klein wenig voraus, um nach einer Patrouille Ausschau zu halten. Erstens wusste keiner von uns genau, wo sich das Lager befand, zweitens wollten wir aus Gründen des Respekts nicht unangekündigt im Lager auftauchen. Wir mussten also von einem Wolf oder besser einer Patrouille des Matin-Rudels begleitet werden.
Letzten Endes entdeckten jedoch nicht wir sie, sondern sie uns. Drei Wölfe umkreisten uns, während Aaron ihnen in aller Seelenruhe unser Anliegen erklärte. Von uns ginge keine Gefahr aus, wir hätten friedliche Absichten und wollten lediglich mit dem Alpha reden. Nur ein Gespräch, mehr nicht. Eine kleine Bitte.
An den goldenen Augen erkannte ich, dass die drei Wölfe Betas waren und keiner von ihnen zeigte sich uns in Menschengestalt. Vielleicht war das hier ein Rudel, das doch sowas wie Schamgefühl besaß, vielleicht trauten sie uns aber auch einfach nicht genug, um sich von einer verletzlicheren Seite zu zeigen. Die misstrauischen Blicke, die sie ständig Tristan zuwarfen, bestätigten mich in letzterer Vermutung.
Einer von ihnen, der kleinste, wurde scheinbar vorausgeschickt, um uns anzukündigen, die anderen blieben und ließen uns nicht aus den Augen.
Aaron und Tristan hatten dieses Misstrauen offensichtlich schon erwartet und vielleicht war auch das der Grund, warum sie das Territorium in Menschengestalt betreten und seitdem keine andere Form angenommen hatten. So wirkten sie weniger bedrohlich, da war es vermutlich leichter, das Vertrauen der Martin-Wölfe zu gewinnen.
Man führte uns bis zum Waldrand und dann erst verstand ich, warum man die Wölfe als Moor-Wölfe bezeichnete. Ein paar verkümmerte Bäume standen noch herum, ansonsten gab es jedoch keine größeren Pflanzen. Stattdessen war der Boden aufgeweicht und an vielen Stellen fast schon überflutet. Ich musste aufpassen, wo ich meine Füße absetzte, sonst wäre ich schneller im dreckigen Wasser gelandet als mir lieb war.
Das erklärte auch das schlammverklebte Fell der Wölfe an den Beinen und teilweise sogar am Bauch. Die Martin-Wölfe schienen sich jedoch nicht daran zu stören, sie wateten munter durch das Moor, als sei es eine blumenbewachsene Wiese. Uns ließen sie trotzdem nicht aus den Augen und als sie merkten, dass wir nicht so schnell hinterher kamen, drosselten sie ihr Tempo und zeigten uns sogar Wege, auf denen unsere Füße trocken blieben.
Ihre Hütten hatten die Martin-Wölfe auf einer Art Steg gebaut. Eine Holzplattform, die mithilfe von Pfeilern und Stützen etwa einen halben Meter über dem Boden ragte. Die Wölfe sprangen mit einem Satz auf den Steg, Tristan, Aaron und ich kletterten hinterher.
„Und nun?", fragte ich, weil niemand sich mehr rührte. Die Wölfe hatten sich hingelegt, offensichtlich in dem Beschluss, dass wir wirklich nicht gefährlich seien, und Tristan, Aaron und ich standen auf dem Steg und wussten nicht, was wir tun sollten.
Einer der Wölfe warf mir einen bösen Blick zu und Aaron stellte sich instinktiv zwischen mich und diesen Wolf.
„Warte einfach kurz", sagte er zu mir, als der Wolf endlich den Blick abwendete. Es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben, denn mir war wieder eingefallen, dass ich möglicherweise gleich einem meiner leiblichen Eltern gegenüber stehen könnte. Ich tippelte unruhig von einem Bein auf das andere, bis sich endlich etwas tat.
Ein Mann kam auf uns zu und so wie die anderen Wölfe reagierten, war er offensichtlich der Alpha. Er hatte strähniges, kinnlanges Haar, müde Augen und war vermutlich nur ein klein wenig älter als ich. Das war ... offensichtlich nicht mein Vater. Vielleicht sollte ich mich vorher bei Aaron und Tristan über den jeweiligen Alpha erkundigen, damit ich mir nicht immer so falsche Hoffnungen machte.
Tristan und ich hielten die Blicke gesenkt, Aaron neigte den Kopf. Eine Geste, die der Mann erwiderte.
Aaron stellte sich vor, dann auch mich und Tristan und zuletzt bat er um ein persönliches Gespräch. Der Alpha hieß Jacob Martin, wie ich aus dem kurzen Dialog erfuhr. Sein Blick schwenkte unsicher zu den Wölfen, als Aaron um Privatsphäre bat. Als sei er verängstigt und traute sich ohne seine Wachleute nicht in unsere Nähe.
Auch Aaron bemerkte das und schlug sofort einen Kompromiss vor.
„Tristan kann hier draußen bei deinen Wachen warten und ich versichere dir beim Wort eines Alphas, dass von keinem von uns eine Gefahr ausgeht. Wir wollen wirklich nur reden. Und ich bitte dabei um Diskretion." Jacob wirkte noch immer verunsichert, ließ sich aber schließlich darauf ein.
„Na gut, ihr beiden folgt mir, er wartet", erklärte er sich bereit und vermied es, Tristan anzusehen. Ich konnte es ihm irgendwie nachempfinden. Tristan konnte schon bedrohlich wirken, obwohl ich mittlerweile wusste, dass er niemandem grundlos etwas zuleide tun würde. Trotzdem wunderte es mich, dass Jacob als Alpha eines ganzen Rudels so viel Angst hatte.
Ich warf Aaron einen fragenden Blick zu, in der Hoffnung, dass er mich verstand. Er wartete, bis wir ein gutes Stück von den Wölfen entfernt waren, dann beugte er sich zu mir und flüsterte: „Jacob hat schlechte Erfahrungen mit Waldwölfen gemacht. Sein Vater wurde bei einem Hinterhalt getötet. Da war Jacob gerade mal 15 und er musste alles mit ansehen. Seitdem trägt er die Verantwortung über das Rudel." Ich schluckte. Wie lange war das jetzt her? Sechs, sieben Jahre? Höchstens! Das wusste ich nicht und vielleicht wäre es besser gewesen, das vorher in Erfahrung zu bringen. Ich sollte Tristan und Aaron dringend über die anderen Rudel ausfragen, bevor wir zu ihnen stießen.
Jacob hatte uns zum Glück nicht gehört und führte uns nun in eine kleine Hütte. Mir fiel auf, dass er uns bewusst so platzierte, dass er in der Nähe des Ausgangs stand. Um im Notfall schnellstmöglich fliehen zu können, vermutete ich. Es tat mir leid, dass wir ihn so einschüchterten, an so etwas hatte ich bei unserem Aufbruch überhaupt nicht gedacht. Um ihm wenigstens ein wenig Mut zu schenken, lächelte ich ihn freundlich an und er erwiderte es sogar kurz.
„Also, worum geht es?", fragte er dann, um möglichst schnell auf den Punkt zu kommen. Offensichtlich wollte er das Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen.
„Eigentlich haben wir nur eine kurze Frage, Jacob", erklärte Aaron. „Es geht um deinen Vater. Wir wollen wissen, ob es möglich ist, dass er vor 19 Jahren einen Tennex bekommen hat."
Jacobs ohnehin schon blasse Haut schien nun den letzten Rest ihrer Farbe zu verlieren.
„Mein Vater - er ... nein, wieso? Wie kommt ihr darauf?" Er wirkte aufgebracht, ein wenig verärgert, aber auch ehrlich verwirrt. Aarons Blick deutete auf mich, Jacob folgte ihm und hielt augenblicklich inne. Er schien zu verstehen.
„Du bist ein Tennex?", fragte er ungläubig und ich nickte.
„Wir suchen nach meinem Rudel, nach meinen Eltern und bisher wissen wir, dass einer von beiden ein Alpha eines Moor-Rudels ist oder war." Jacob nickte, vor lauter Aufregung hatte er scheinbar sogar vergessen, Angst zu haben, denn sein Blick glitt nichtmehr alle paar Sekunden zum Ausgang.
„Das tut mir leid für dich, aber ich kann dir versichern, dass du nicht zu diesem Rudel gehörst. Für meinen Vater gab es immer nur seine Mate, er hätte niemals einen Tennex gezeugt." Jacob klang ehrlich bedauernd, aber plötzlich auch viel vertrauter. Und entspannter, als hätte er erst jetzt realisiert, dass wir tatsächlich keine Bedrohung darstellten.
Ich senkte den Kopf. Okay, schon mal ein Rudel auf der Liste, zu dem ich nicht gehörte. Aber immerhin beherbergte diese Liste noch vier weitere Rudel. Bei einem davon würden wir Erfolg haben, ganz bestimmt.
Auch wenn Jacob nun ein wenig offener uns gegenüber war, traute er sich dennoch nicht, uns den Rücken zuzukehren. Er ließ uns vorgehen, wandte nie den Blick von uns ab und auch, wenn er Aaron und mir glaubte, so war er dennoch mehr als misstrauisch gegenüber Tristan. Jacob wirkte tatsächlich erschrocken darüber, dass sich nichts verändert hatte, als wir die Hütte verließen. Hatte er etwa erwartet, auf ein Schlachtfeld zurückzukehren? Oder Tristan vorzufinden, gebeugt über tote Wölfe, die er sich jetzt als Snack gönnte? Sein Gesichtsausdruck schien jedenfalls genau das auszusagen.
Als wir zu Tristan und den anderen Wölfen zurückkehrten, versuchte Jacob, sich nichts anmerken zu lassen. Er verabschiedete sich höflich von uns -sogar von Tristan- wünschte uns viel Erfolg bei den anderen Rudeln und schickte uns dann noch zwei Wölfe mit, die uns bis an seine Grenze begleiten würden. Ob aus Angst oder Höflichkeit vermochte ich nicht zu sagen.
Das Lager des nächsten Rudels erreichten wir erst am nächsten Mittag, was wohl hauptsächlich daran lag, dass ich eine längere Pause forderte, nachdem wir das Martin-Territorium verlassen hatten.
Ich konnte einfach nicht mehr weiter laufen und ich wollte mich diesmal gefälligst darauf vorbereiten, was mich im Rudel erwartete.
Dieses Mal überließ Aaron es mir, dem Alpha, einer Frau kurz vor den Vierzigern, unser Anliegen zu erklären. Ich versuchte, sachlich zu bleiben, und höflich, nicht zu viel zu verraten und dennoch so viel zu erzählen, dass man uns vertraute. Es war schwer, ein Mittelmaß zu finden, aber Aaron war dabei und unterbrach mich nicht. Das gab mir die nötige Sicherheit, nur leider wurden wir auch dieses Mal enttäuscht.
Die Frau versicherte, auch vor 19 Jahren schon Alpha des Rudels gewesen zu sein, aber niemals ein Kind bekommen zu haben. Schon gar keinen Tennex und selbst wenn, dann hätte sie alles dafür getan, dieses Kind zu behalten. Ich glaubte ihr, Aaron glaubte ihr. Wir verlangten keine weiteren Erklärungen und doch beichtete sie uns, dass sie aus gesundheitlichen Gründen gar nicht in der Lage sei, Kinder zu bekommen. Es war ein Geheimnis, das sie erzählte, selbst in ihrem eigenen Rudel wurde sehr diskret damit umgegangen und sie bat uns, es ebenso zu handhaben.
Mir war nicht klar, warum sie das erzählt hatte. Vielleicht war es ein Dienst - ein Geheimnis für ein Geheimnis, immerhin hatten wir ihr von meiner Abstammung erzählt. Möglicherweise hatte sie aber auch nach all der Zeit einfach das Bedürfnis, mit Unbeteiligten darüber zu sprechen. Ich wusste nicht, was sie antrieb, aber mich rührte ihr Vertrauen.
Schlussendlich erlaubte sie uns noch, unser Proviant bei ihren Vorräten aufzufüllen, denn viel hatten wir tatsächlich nicht mehr, und dann verabschiedeten wir uns schon wieder.
Bis zum Abend hatten wir dann auch das zweite Moor-Territorium verlassen und übernachteten wiedermal in einem territoriumsfreien Gebiet. Dass es so viele Gegenden ohne Besitzansprüche gab, hatte ich gar nicht gewusst und als ich Aaron danach fragte, erklärte er: „Das wurde nach dem letzten großen Krieg von allen Alphas beschlossen. Es kommt viel schneller zu Rivalitäten, wenn die Territorien so dicht beieinander sind, also sorgte man dafür, dass sie weit genug voneinander entfernt liegen. Und deshalb gibt es so viele freie Gegenden, in denen jeder Wolf sich beliebig aufhalten darf."
Später am Abend fragte ich in die Runde, was unser nächstes Ziel sei. Es waren noch drei Rudel offen - was würde uns dort erwarten?
Auch Tristan warf Aaron einen fragenden Blick zu. Mittlerweile kannte er zwar den Grund für unsere Reise, aber offensichtlich noch nicht die Route. Aaron seufzte.
„Ich bin mir nicht sicher. Von hier aus sind zwei Rudel etwa gleich weit entfernt. Ich weiß nicht, welches wir zuerst besuchen sollten." Er wirkte hin und her gerissen und ich fragte mich, was der Grund dafür sein könnte.
Tristan schien zumindest eine ungefähre Ahnung von seinem Dilemma zu haben.
„Strategisch gesehen ist es ratsamer, zuerst zum Summer-Rudel zu gehen. Sonst müssten wir später einen Umweg laufen." Aaron nickte zustimmend und war dennoch nicht begeistert.
„Was ist denn mit dem Summer-Rudel?", fragte ich besorgt. Irgendetwas war doch nicht in Ordnung.
„Das Problem sind nicht die Summers", erklärte Aaron schließlich. „Ich bin mir nur einfach sicher, dass Edwin nicht dein Vater sein kann. Ich bin ihm schon zwei Mal begegnet, kenne ihn also persönlich. Er ist glücklich mit seiner Mate, sie haben drei Kinder. Glaub mir, ihm ist das einfach nicht zuzutrauen. Ich bin mir sicher, wir laufen nur einen Umweg, wenn wir zu seinem Rudel gehen, andererseits sind mir die Summer-Wölfe ehrlich gesagt lieber als die Ken."
„Die Ken sind das aggressivste der Moor-Rudel", erklärte Tristan mir. „Ihr Alpha ist verbittert und unberechenbar. Er hat seine Mate verloren und ist seitdem nicht mehr er selbst. Ich denke, Aaron befürchtet seinen Zorn, wenn wir ihn mit dem Anliegen konfrontieren?" Den letzten Teil sprach er mehr als Frage und warf seinem Alpha einen kurzen, zögernden Blick zu. Vielleicht befürchtete er, zu viel gesagt zu haben?
Doch Aaron nickte nur.
„Aleksander könnte es als Vorwurf verstehen. Er traut sowieso schon keinem anderen Rudel, wenn wir jetzt auch nur die Vermutung eines Tennex äußern -und es dann nicht wahr ist- ich weiß nicht, ob wir dann so einfach das Lager verlassen können."
„Und wenn wir als letztes zu den Ken gehen?", schlug ich vor. Wenn eines der anderen Rudel schon zugab, dass ich zu ihnen gehörte, war es nicht nötig, auch die Ken zu besuchen. Und wenn die anderen beiden Alphas verneinten, kämen wir wenigstens nicht mit falschen Aussagen.
„Wenn wir aber zuerst zu den Summers gehen, müssten wir danach sowieso durch das Gebiet der Ken, wenn wir keinen tagelangen Umweg gehen wollen", merkte Tristan an. Wir steckten also in einer Zwickmühle.
„Tristan, du sagtest, er habe seine Mate verloren - wann war das?", fragte ich plötzlich. Vielleicht war das ja ein entscheidender Hinweis. Tristan rechnete kurz nach.
„Ich glaube, vor zwanzig Jahren. So in etwa jedenfalls, wieso?"
„Also kurz bevor ich gezeugt wurde", schlussfolgerte ich und nun schienen auch die beiden anderen meinen Gedanken folgen zu können.
„Denkst du, er hat wegen der Trauer über seine verstorbene Mate mit einer seiner Omegas geschlafen?" Aaron klang weniger abgeneigt von der Idee als ich erwartet hätte. Auch für ihn machte diese Begründung Sinn, dennoch schüttelte er den Kopf.
„Wenn wir ihn mit dieser Theorie konfrontieren, sind wir erst recht erledigt", prophezeite er und klang dabei mehr als ernst. „Vor allem, weil wir keine Beweise haben und es nicht mehr als eine Vermutung ist." Es war eine Tatsache, die Aaron aussprach, aber in mir hatte sich trotzdem der Gedanke festgesetzt. Je mehr ich darüber nachdachte, für umso realistischer hielt ich meinen Verdacht.
Vielleicht war es ein wölfischer Instinkt, vielleicht gute Menschenkenntnis oder vielleicht hatte ich auch zu viele Filme gesehen, aber mittlerweile glaubte ich wirklich, dass Aleksander Ken mein Vater war.
„Bitte Aaron, vertrau mir doch. Ich bin mir so sicher!", sagte ich.
Aaron seufzte, Tristan rettete sich in Schweigen.
„Miles, woher willst du das denn wissen? Du kennst Aleksander nicht. Du kennst auch nicht die anderen Rudel. Du weißt doch noch nicht mal, wer du wirklich bist!", blaffte Aaron und merkte erst zu spät, was er damit angerichtet hatte. Er wollte sich sofort entschuldigen, doch ich ließ ihn nicht. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und rückte ein Stück von Aaron ab.
Ja, er hatte recht. Ich wusste nicht richtig, wer ich war, woher ich kam. Dennoch tat es weh, das so von ihm an den Kopf geworfen zu bekommen.
„Na schön. Dann gehen wir eben morgen zuerst zu den Summers!", blaffte ich ebenso unfreundlich zurück und wendete mich dann endgültig von Aaron ab. Damit erklärte ich die Diskussion für beendet.
„Miles ...", setzte Aaron an, doch ich unterbrach ihn. „Lass es. Du hast schon recht. Ich weiß gar nichts."
„Nein Miles, so war das nicht gemeint. Komm schon." Ich hörte ihm nicht weiter zu und stand stattdessen auf. Ich brauchte Abstand. Tristan hatte die Gegend erst vor kurzem gecheckt, also würde mir nichts passieren.
Ich entfernte mich von den beiden. Aaron war aufgestanden und hatte mir folgen wollen, doch ich hielt ihn zurück. „Nein, bitte. Lass mich kurz allein." Und er hatte es akzeptiert.
Ich setzte mich etwas abseits auf einen umgekippten Baumstamm. Hier im Norden gab es zwar weniger Bäume, aber dennoch gab es bewaldete Flecken - und in denen hielten wir uns bevorzugt auf. Als Waldwölfe fühlten wir uns zwischen Bäumen wohler, sicherer, hatte Aaron erklärt. Mich hatte das nur verwirrt, denn auch ich fühlte mich im Wald wohler und ich war kein Waldwolf - jedenfalls nicht gebürtig.
Doch wie Aaron schon sagte: Ich wusste ja nicht mal, wer ich überhaupt war, wie konnte ich da dann sagen, wohin ich gehörte?
Noch immer hielt ich meinen Oberkörper umklammert und jetzt, im Schutz der Bäume, weit genug von Zuhörern entfernt, kamen mir die Tränen. Ich weinte stumm vor mich hin, ohne selbst zu wissen, warum eigentlich.
Ich war verletzt wegen Aarons Worten, aufgewühlt, weil er recht hatte und überfordert, weil die ganze Mission doch ziemlich viel auf einmal war. Die körperliche Anstrengung der Reise, aber auch die seelische. Jedes Mal zu erwarten, meine leiblichen Eltern zu treffen, der Wahrheit immer einen Schritt näher zu kommen. Vorfreude, Neugier, Hoffnung, aber auch Angst und Unsicherheit. Gleichzeitig auch die Gedanken an meine richtige Familie - Mum, Dad und Merle.
Was würde es für sie bedeuten, würde ich von meinen leiblichen Eltern akzeptiert? Ich musste außerdem auch sie, die Wölfe, als Eltern akzeptieren, um meinen Wolf zu aktivieren. Was, wenn ich daran scheiterte? Ich konnte doch nicht die Familie aufgeben, die mich aufgezogen hatte. Es zerriss mich innerlich.
Meine Tränen stammten vermutlich aus der inneren Verwirrung, all das gleichzeitig zu empfinden.
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht merkte, wie jemand näher kam. Erst als sich eine Hand auf meine Schulter legte, schreckte ich aus einer Art Trance auf und sah Aaron durch einen Tränenschleier ins Gesicht. Er strich mir die Nässe von der Wange und fuhr dann über meine Schulter, den Arm hinunter, bis er nach meiner Hand fasste und über meinen Handrücken streichelte.
Ich konnte nicht mehr. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Ohne lange darüber nachzudenken, fiel ich Aaron um den Hals, drückte mich an ihn, als hinge mein Leben davon ab. Tat es zwar nicht wirklich, aber wenigstens half es. Ich spürte seinen Herzschlag an meiner Brust -unsere Herzen schlugen im Einklang, wie ich nebenbei feststellte- und seine Hand an meinem Rücken beruhigte mich schließlich.
„Es tut mir leid Miles, das wollte ich nicht", flüsterte Aaron, doch ich erwiderte nichts. Es war nicht seine Schuld ... nicht nur. Wir konnten später noch darüber reden. Jetzt wollte ich nur noch bei ihm sein und irgendwie diese Reise überstehen.
Ich konnte nicht sagen, wie lange wir so da knieten, umschlungen wie Zwillingsbäume, aber irgendwann fand uns Tristan. Vermutlich hatte er nach uns gesucht, weil er sich sorgte und wollte umdrehen, als er uns unversehrt vorfand, aber wir hatten ihn gesehen und es geschafft, uns voneinander zu lösen.
Aaron musterte mich, wischte mir noch einmal ein paar feuchte Spuren aus dem Gesicht. „Ist alles okay?", fragte er und ich nickte. „Es wird gehen."
Dann folgten wir Tristan zurück zu unserem Lagerplatz. Sein weißes Fell leuchtete beinahe in der Dunkelheit, es war also auch für einen Menschen leicht, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Tristan hielt respektvoll Abstand, als ich mich in meinen provisorischen Schlafplatz kuschelte und Aaron an mich zog. Da er sitzen blieb, bettete ich meinen Kopf auf seinen Oberschenkeln und starrte in die Nacht.
Auch wenn Aaron sich nachher verwandeln musste, um mich zu wärmen, jetzt gerade war mir diese Nähe willkommen. Aaron kraulte mir durch die Haare, während er sagte: „Morgen früh brechen wir zum Ken-Rudel auf. Die Summers können wir notfalls auch als letztes Rudel auf der Heimreise besuchen."
Tristan widersprach nicht und ich murmelte ein leises: „Danke", dann fielen mir die Augen zu und ich schlief ein.
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Plötzlich Wolf
WerewolfMiles führt ein normales Leben. Er hat einen besten Freund und eine Familie, die ihn liebt. Eigentlich könnte er kaum glücklicher sein. Seine einzigen Sorgen sind die Anforderungen des letzten Schuljahres und die Frage, was er danach mit seinem Lebe...