Ich wusste nicht, was genau ich von dem Lager erwartet hatte. Vielleicht ein Sammelplatz, der von Höhlen und Bauen umgeben war. Vielleicht auch ein paar Zelte oder gar Holzhütten. Was ich jedoch nicht erwartet hatte, waren Häuser aus Stein, gepflasterte Wege und Straßenlaternen. Ein Spielplatz, ein Café und etwas, das von außen stark nach einem Supermarkt aussah. Das Einzige, was vielleicht Ähnlichkeiten mit den Vorstellungen in meinem Kopf hatte, waren sowohl die Wölfe als auch die Menschen, die hier herum liefen. Es waren allerdings viel mehr als ich erwartet hätte, obwohl das hier scheinbar nur ein Teil des Rudels war.
Aaron war in Menschengestalt geblieben und hatte sich wieder die Sachen übergezogen, die auf meinen Rucksack geklemmt waren. Meine Hand hatte er nicht losgelassen und das änderte sich auch nicht, als wir im Lager auftauchten.
Es war mir ein wenig unangenehm, denn von allen Seiten wurden wir angestarrt. Einige grüßten, wenn wir an ihnen vorbei liefen, die meisten beobachteten jedoch nur stumm aus der Ferne. Vielleicht traute sich niemand, Aaron anzusprechen, weil er so zielsicher geradeaus starrte und mit mir ohne Umschweife in eine bestimmte Richtung lief.
Möglicherweise überraschte es mich deshalb so sehr, als praktisch aus dem Nichts ein Mädchen vor uns auftauchte und Aaron um den Hals fiel. Sie quietschte erfreut seinen Namen und Aaron schien sich endlich auch wieder zu entspannen.
Er ließ meine Hand los, um stattdessen die Umarmung der Fremden zu erwidern. Er hob sie sogar ein klein wenig in die Luft, was ihr nur erneut ein Quietschen entlockte.
Als er sie wieder abgesetzt hatte, überrumpelte sie auch mich mit derselben Herzlichkeit. Huch, was war denn jetzt los? Stocksteif stand ich da und ließ mich von einer Fremden knuddeln, während Aaron nur glucksend daneben stand.
„Cami, jetzt lass ihn doch mal Luft holen", kicherte er und das Mädchen löste sich von mir. Sie hauchte eine Entschuldigung, wandte sich dann aber wieder an Aaron.
„Ein Rüde also. Hätte ich ehrlich nicht gedacht, Aaron. Aber freut mich für dich. Er ist niedlich." Mal abgesehen davon, dass sie über mich sprach als wäre ich nicht anwesend, war ihre Stimme durchaus sympathisch. Ruhig und melodisch zugleich und definitiv anders als ich es nach dem begrüßenden Quietschen vermutet hätte.
Sie war nur ein wenig kleiner als ich und ein paar mehr Zentimeter unter Aaron. Ihre Haare waren kinnlang und rotbraun. Eine Seite hatte sie mit einer Spange hinter dem Ohr festgeklemmt.
Als sie mich für einen Moment musterte, konnte ich dunkelgrüne Augen erkennen. Sie wirkte freundlich und ich konnte gar nicht anders als ihr Lächeln zu erwidern.
„I-ich bin Miles", stellte ich mich in einem günstigen Moment vor. Das Mädchen strahlte mich an.
„Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Camille Donra, du kannst aber Cami sagen." Für mich klangen die beiden Namen kaum unterschiedlich, aber ich nickte dennoch.
„Es wurden schon alle über eure Ankunft informiert. Tyson und Anna warten im Glashaus auf euch", informierte Cami uns nun und Aaron nickte.
Ich stellte keine Fragen, auch wenn mir diese Aussage merkwürdig vorkam. Im Glashaus? Aber ich würde es schon noch erfahren, jetzt gerade schienen die beiden vor mir ohnehin bei anderen Themen zu sein.
„Wo ist Henry?", fragte Aaron. Er klang plötzlich kühl und abweisend und nicht mehr so herzlich wie noch zuvor. Wer war Henry?
„Tyson hat ihn erstmal weggeschickt. Euer Wiedersehen, beziehungsweise-" Sie wandte sich kurz an mich. „-euer Kennenlernen soll nicht durch Henrys Beisein getrübt werden." Aaron nickte.
„Gut."
Es folgten noch ein paar kurze Wortwechsel und es kam ein Junge auf uns zu, der Aaron kameradschaftlich auf die Schulter schlug und mich herzlich Willkommen hieß, und dann zog Aaron mich weiter einen Weg entlang, der Richtung Wald führte.
Und dann wusste ich auch, was mit Glashaus gemeint war. Zwischen den Bäumen ragte eine Villa empor, deren eine Seite komplett verglast war. Die untere Etage noch mit normalen Scheiben, die obere Etage dann blickdicht. In den Scheiben spiegelten sich lediglich die Baumkronen.
„Darf ich vorstellen: Die Lancon-Villa. Die Alpha-Hütte, das Glashaus, mein Zuhause, wie auch immer man es bezeichnen mag" sagte Aaron. Ich war sprachlos. Wow. Mit sowas hätte ich bei dem Begriff Lager nun am aller wenigsten gerechnet.
Aaron führte mich in das Gebäude. Von innen war alles nur noch beeindruckender. Mir klappte fast die Kinnlade herunter, als ich mich in der großen Eingangshalle umsah. Es führte eine breite steinerne Treppe zu einem Gang im oberen Stockwerk und hier unten gab es außer dem Eingang vier weitere Türen, sozusagen in jeder Ecke eine, denn die Treppe begann mitten im Raum und ließ an den Seiten genug Platz, um nicht an die Wände zu grenzen.
„Da hätten wir Büro und Küche", sagte Aaron und deutete auf die Türen rechts von uns. „Ich werde dir nachher alles zeigen. Aber erst, wenn wir unsere Ruhe haben, ist das in Ordnung?" Er wartete auf mein „Ja", dann ging er zielsicher auf eine der linken Türen zu. Ich folgte ihm und verließ dabei den Teppich, der lediglich von der Eingangstür bis zur Treppe führte. Der Rest des Bodens war mit hellen Fliesen ausgelegt.
Aaron klopfte vorsichtig an die Tür, wartete aber nicht auf eine Antwort, sondern trat einfach ein. Vielleicht spürte er meine Nervosität und versuchte mich zu beruhigen, als er nach meiner Hand griff und mich hinter sich in den Raum zog.
Es war riesig!
Wir standen in einem Wohnzimmer. Eine einladende Eckcouch, groß genug, dass eine ganze Familie darauf Platz hatte. Dazu ein ovaler Couchtisch, ein riesiger Fernseher, genügend Schränke und Regale und ein weiterer Tisch mit sechs Stühlen. Alles in Weiß gehalten. Alles wirkte sauber und penibel ordentlich aufgeräumt. Ich würde sicherlich kein einziges Staubkorn finden, egal wie gründlich ich suchte.
Auf dem Sofa saßen ein Mann und eine Frau, die uns den Blick zugewandt hatten. Beide lächelten willkommen und ich wusste nicht, ob es Aaron oder mir galt. Vermutlich uns beiden.
Die Frau stand sofort auf, als wir uns dem Sofa näherten. Sie schloss Aaron fest in die Arme und reichte mir danach die Hand.
„Hallo, ich bin Anna Lancon", stellte sie sich vor und ich nuschelte etwas überfordert meinen eigenen Namen. Das war also Aarons Mutter. Sie trug einen weißen Jumpsuit, war relativ groß im Vergleich zu meiner eigenen Mum und hatte dieselben braunen Augen wie Aaron. Auch die roten Haare hatte er zweifelsohne von ihr geerbt. Anna fielen sie in langen Locken über den Rücken.
Tyson Lancon, wie sich Aarons Vater vorstellte, war weniger elegant gekleidet als seine Frau, strahlte aber auch so eine ungeheure Autorität aus. Ich traute mich gar nicht, ihm in die Augen zu sehen, obwohl er mich freundlich anlächelte und in keiner Weise seine Missgunst ausdrückte.
Wir wurden gebeten, uns zu setzen und Aaron ließ sich ohne Umschweife auf das gepolsterte Sofa fallen. Ich setzte mich etwas zaghafter neben ihn. Automatisch verschränkten wir unsere Hände miteinander, was mir ein wenig Mut schenkte.
„Also erstmal herzlich willkommen hier bei uns, Miles. Wir freuen uns, dass du da bist", sagte Anna Lancon. Ich lief ein wenig rot an.
„Dankeschön. Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen, Anna Lancon." Aarons Mum blinzelte kurz überrascht, rettete sich dann aber in ein freundliches Lächeln.
„Oh sag doch Du zu mir. Du bist der Mate unseres Sohnes, ich denke, diese Höflichkeitsfloskeln können wir sein lassen. Du darfst uns beide auch gern nur bei unserem Vornamen nennen." Tyson Lancon nickte bestätigend. Ich fühlte mich ein wenig erschlagen. Ich war es gewohnt, Menschen –allen voran Autoritätspersonen- mit Vor- und Zunamen anzusprechen. Das war bei uns üblich, aber Aaron hatte mir schon erklärt, dass solche Regeln nicht für Wölfe galten. Untereinander nutzte man fast ausschließlich die Vornamen.
„Also Miles, aus welchem Rudel bist du denn?", fragte Aarons Vater neugierig und ich bekam schweißige Hände. Die Frage war mir unangenehm, was sollte ich denn bitte darauf antworten? Was würden sie denken?
„I-ich, also ...", stotterte ich. Warum hatte ich eigentlich die Kunst des Sprechens verlernt, seit ich im Lager angekommen war? Aaron kam zu meiner Rettung.
„Darüber müssen wir reden. Er lebt in keinem Rudel."
„Ein Einzelläufer?", fragte seine Mum überrascht, doch Aaron und ich schüttelten den Kopf.
„Also doch, schon, aber nein", erzählte Aaron sehr hilfreich und erntete verwirrte Blicke von beiden Eltern. „Er ist ein Mensch."
„Was?" Tyson fuhr auf und ich zuckte zusammen. In dem Moment fiel mir wieder ein, was es für das Rudel bedeuten konnte, wenn der Alpha seinen Mate nicht markierte. Aaron hatte mir erzählt, dass seine jüngere Schwester von vornherein klargestellt hatte, niemals Alpha des Lancon-Rudels zu werden. Sie selbst hatte sich darauf eingestellt, in das Rudel ihres Mates zu wechseln, sobald sie ihn fand. Tyson, Anna und das gesamte Rudel hatten diese Entscheidung akzeptiert, jedoch bedeutete das auch, dass Aaron der Alpha werden musste. Nur unter ganz bestimmten Umständen war es möglich, einen Nicht-Blutsverwandten zum Alpha eines Rudels zu ernennen. Umstände, die im Lancon-Rudel nicht gegeben waren. Ich konnte also verstehen, dass Aarons Eltern alles andere als begeistert dreinblickten.
„Aber ich rieche es doch an ihm! Er ist ein Omega, Aaron. Also was redest du da?", fand seine Mutter zurück ins Gespräch.
„Das ist eben unser Problem. Ich denke, sein Wolf ist unterdrückt und wir wissen nicht, wie wir ihn erwecken können." Aaron blieb ruhig, also blieb ich es auch. Er schien sich ganz sicher, dass seine Eltern kein Problem mit mir hätten und ich vertraute ihm, auch wenn es gerade nicht so aussah.
Tyson war in eine nachdenkliche Pose gefallen, Anna musterte mich. Irgendwie sah sie mitleidig aus.
„Wie bist du aufgewachsen Miles? So ganz ohne Rudel", fragte sie dann. Sie klang freundlich und nicht urteilend. Das beruhigte mich und so begann ich die Kurzfassung meiner Geschichte zu erzählen. Man hatte mich im Wald gefunden, adoptiert und dann war ich unter Menschen aufgewachsen, bis schließlich Aaron mich gefunden und im Wald fast zu Tode erschreckt hatte. Anna schmunzelte bei der Erzählung und ich fühlte mich gleich noch ein Stück wohler. Sie gab mir das Gefühl, trotzdem noch willkommen zu sein.
Aaron stupste mich an und deutete mit einem Kopfnicken auf meinen Rucksack neben der Couch. Ich verstand, was er sagen wollte.
„Als man mich fand, da war ich in eine Decke gewickelt." Ich zog eben diese Decke aus der Tasche hervor und hielt sie unschlüssig in der Hand. „Aaron hat gesagt, er hätte einen Wolfsgeruch wahrgenommen, wisse aber nicht, welchen."
Tyson streckte die Hand nach dem Stofffetzen aus. „Darf ich mal?"
Ich nickte und reichte ihm die Decke. Wie neulich noch Aaron drückte auch Tyson seine Nase in den Stoff und schloss dabei konzentriert die Augen.
„Es riecht nach Moor", sagte er dann. „Du kommst aus dem Norden, oder Miles?"
Es schockierte mich ein wenig, wie viel die Wölfe allein durch Gerüche über mich erfuhren. Ich nickte zögernd.
„Ja. Also da wurde ich zumindest gefunden." Tyson nickte, wie um seine eigene Vermutung zu bestätigen.
„Du bist definitiv ein Moorwolf, ich kann nur leider nicht sagen, von welchem Rudel. Dafür ist der Geruch zu schwach." Ein Moorwolf. Was bedeutete das?
Ratlos sah ich zu Aaron, der mir jedoch deutlich machte, später darüber zu reden.
„Vater, ich hatte gehofft, du wüsstest einen Weg, Miles' Wolf zu erwecken. Er ist noch irgendwo in ihm drin." Zu meinem Bedauern schüttelte Tyson den Kopf.
„Von so etwas habe ich noch nie gehört. Wir wenden uns an die Ältesten und an den Heiler, mal schauen, was die herausfinden. Aber Aaron ..." Sein Blick schwenkte zu mir. „Und Miles. Ansonsten darf keiner etwas davon erfahren. Noch nicht. Denkt euch meinetwegen eine Geschichte aus. Du bist zurückgekehrt Sohn, also bist du ab sofort für das Rudel verantwortlich. Du bist jetzt der Alpha, aber nimm diesen Rat von mir an: Erzähle noch niemandem von dem unterdrückten Wolf. Es würde nur für Panik und Chaos sorgen, hast du verstanden?"
Aaron hatte mich im Haus rumgeführt, mir das Gästezimmer gezeigt, gleichzeitig aber auch angeboten, bei ihm mit im Zimmer zu schlafen. Er hatte keine zusätzliche Schlafcouch wie ich es bei mir zuhause hatte, dafür aber ein extra breites Bett, in dem wir bequem beide drin liegen könnten – wenn ich nichts dagegen hätte, wie Aaron betonte.
Ich hatte jedenfalls nichts dagegen, nach einer ausgiebigen Dusche auf dem Bett zu sitzen und zu kuscheln, während Aaron mir von den Moorwölfen erzählte.
Es gab scheinbar fünf Moor-Rudel unterschiedlicher Größe, die alle im Norden angesiedelt waren – wie der Name schon sagte im Moor.
Die Moorwölfe lebten größtenteils zurückgezogen und vermieden den Kontakt zu anderen Rudeln. Es waren stolze Tiere, die sich nicht gern von den anderen Wölfen ‚bespitzeln' ließen. Vor vielen Jahren hatte es wohl mal einen Kampf gegeben, der zu dieser Einstellung geführt hatte.
Ich fragte Aaron gerade über die einzelnen Rudel aus – welche es gab und wie groß sie waren – da klopfte Tyson an die Tür.
„Henry ist unten. Das ist jetzt deine Aufgabe", sagte er und ich konnte eine leichte Anspannung an Aaron bemerken. Er nickte. Schon wieder Henry. Cami hatte ihn vorhin auch erwähnt.
„Wer ist Henry?", fragte ich endlich, als Tyson gegangen war. Aaron erhob sich schon vom Bett und reichte mir seine Hand.
„Komm mit." Ich folgte ihm aus dem Zimmer und zur steinernen Treppe.
Unten in der Eingangshalle konnte ich einen Jungen ausmachen. Vielleicht dreizehn Jahre alt, allerdings war das schwer zu sagen. Er war klein und schmal, hatte junge Züge, aber nicht ganz so jung wie die eines Kindes. Er tippelte unruhig von einem Fuß auf den anderen, konnte scheinbar vor Nervosität nicht still stehen.
Und dann, als er mich und Aaron bemerkte, weiteten sich seine Augen und er sank augenblicklich auf die Knie! Was sollte denn das? Aaron neben mir seufzte genervt.
„Henry, steh auf. Ich will, dass du gerade stehst, wenn ich mit dir rede." Der Junge gehorchte augenblicklich. Eine Strähne seines silbernen Haars war ihm ins Gesicht gerutscht und er strich sie nervös beiseite. Seine Augen flackerten unruhig zwischen Aaron und mir hin und her.
„Verzeiht mir mein Vergehen. Ich habe nicht nachgedacht. Es war unklug. Ich habe einen Fehler gemacht", platzte es aus ihm heraus, kaum waren wir bei ihm angekommen. Ich sah fragend zu Aaron, doch der hatte seinen Blick stur auf Henry gerichtet.
„Bist du bereit, die Konsequenzen zu tragen?", fragte er kühl, Henry nickte hastig.
„Natürlich. Ich kenne die Konsequenzen und ich akzeptiere sie." Er senkte demütig den Blick. Was zur Hölle war hier los?
„Aaron? Was soll das?", fragte ich unsicher. Henry hob unsicher seinen Blick und schaute mich an. Als er merkte, dass ich dasselbe bei ihm tat, huschten seine Augen sofort wieder Richtung Boden.
„Na, Henry. Sag, was hier los ist. Du hast Miles gehört, er würde es gerne wissen. Also los!" Es gefiel mir nicht, wie Aaron mit dem Jungen sprach, der kaum viel älter sein konnte als Merle. Wenige Jahre vielleicht. Damit Henry sich nicht so erniedrigt fühlte, lächelte ich ihm aufmunternd zu.
„E-es tut mir leid. Im – im Wald da ... ich habe unüberlegt gehandelt, z-zu schnell u-und es tut mir leid. Das war ein Fehler", stammelte er zusammen und ich verstand endlich. Er war der graue Wolf, der mich angegriffen hatte! Instinktiv wich ich einen Schritt zurück, was Henry wieder beschämt den Kopf senken ließ.
„Du brauchst keine Angst haben", sagte Aaron neben mir. „Er wird dir nichts tun – ist es nicht so Henry?" Die letzten Worte sprach er in scharfem Ton aus. Es signalisierte, dass er etwas anderes gar nicht zulassen würde. Mich ließ das erleichtert aufatmen, Henry ließ es hastig nicken. Irgendwann bekäme der Junge noch ein Schleudertrauma, wenn er so weiter machte.
„Sehr schön. Miles? Henry und ich haben noch etwas zu bereden." Dem demütigen Blick des Jungen nach zu urteilen, wusste der genau, was das war und es schien ihm überhaupt nicht zu behagen. „Wenn du magst, kannst du schon mal nach oben gehen. Wir werden nicht lange brauchen."
Wahrscheinlich hätte ich dabei bleiben dürfen, wenn ich das verlangt hätte, aber ein Teil von mir wollte gar nicht wissen, was für Konsequenzen jemandem drohten, der es wagte, den Mate des Alphas anzugreifen. Ein Schauer überkam mich bei dem Gedanken daran.
Ich wendete mich also ab, um zurück in Aarons Zimmer zu gehen und sah gerade noch, wie Aaron und Henry durch eine der Türen verschwanden. Wenn sie sich nicht zufällig etwas zu essen gönnen wollten, waren sie in das Büro gegangen.
Mich überkam ein ungutes Gefühl. Vielleicht hätte ich doch mitgehen sollen? Aaron war befangen. Was, wenn er überreagierte? Andererseits war Aaron stets kontrolliert. Ich hatte noch nicht erlebt, dass er jemals zu weit gegangen wäre und man hätte ihn nicht zum Alpha gemacht, wenn er sich nicht beherrschen könnte, oder?
Ich beschloss, Aaron zu vertrauen. Etwas anderes blieb mir jetzt auch gar nicht übrig. Trotzdem würde ich ihn nachher nach diesen Konsequenzen fragen, die angesprochen wurden.
Um mich zu beschäftigen, kramte ich mein Handy aus dem Rucksack, checkte die Uhrzeit und startete dann einen Videoanruf. Felix sollte eigentlich zuhause sein, wenn er sich nicht gerade mit Kati traf.
Es dauerte auch nicht lange, bis mein bester Freund den Anruf entgegen nahm.
„Hey, Miles!", rief er erfreut. Ich konnte sehen, dass er noch immer im Bett lag. Dieser Faulpelz.
„Habe ich dich geweckt?", grinste ich. Nicht dass es mir leid täte, es war schon früher Nachmittag und so langsam durfte Prinzessin gerne aufstehen. Oder sich nach meinem Anruf wieder in die Federn kuscheln, mir egal. Jetzt jedenfalls verlangte ich seine Aufmerksamkeit und erzählte ihm möglichst detailliert von der bisherigen Reise.
Für die spätere Zeit müsste ich mir andere Sachen überlegen, immerhin glaubte man bei mir zuhause, ich sei auf Reise, um andere Orte kennenzulernen. Da konnte ich nicht einfach bei meinem ersten Ziel abbrechen. Wobei, vielleicht doch, wenn ich sagte, wie gut es mir hier gefiel. Nun ja, ich würde mir schon etwas überlegen. Erstmal wollte ich selbst wissen, wie es weiter ging.
Felix machte einen ähnlichen Kommentar wie meine Eltern, als er erfuhr, dass Aaron stundenlang mit mir durch die Wälder streifte, ohne sich zu beschweren. Wir würden ja super zusammen passen und was ich mir nicht sonst noch von meinem Freund hatte anhören dürfen. Ich hatte nicht widersprochen, schließlich schien sogar irgendeine höhere Macht davon überzeugt zu sein, dass wir zusammen gehörten. Was hätte ich dem entgegen setzen können?
Als Felix bemerkte, dass ich in Aarons Bett saß, wackelte er anzüglich mit den Augenbrauen. Das war für mich auch der Zeitpunkt, das Gespräch langsam zu beenden. Ich wusste nicht, wie lange Aaron noch mit Henry brauchte und ich wollte nicht, dass er zufällig genau dann ins Zimmer trat, wenn Felix versuchte, mich über irgendwelche Bett-Fantasien auszuquetschen – und den Versuch würde Felix definitiv starten, wenn ich ihm die Gelegenheit dazu bot!
Also beendete ich das Thema, bestellte schöne Grüße an Kati und verabschiedete mich dann von Felix.
Einen Moment atmete ich durch, dann überprüfte ich meinen Akku-Stand. Für ein Video würde es noch reichen, also öffnete ich die Kamera und strahlte mir selbst entgegen.
„Hey Mum, Dad und Merle!", grinste ich in die Kamera.
„Ich nehme an, ihr seid gerade beschäftigt und ich weiß nicht, wann ich das nächste Mal Zeit habe zum Telefonieren. Ich wollte euch nur noch schnell schöne Grüße ausrichten. Mir geht es super, ich hoffe, euch auch.
Aaron und ich sind vor ein paar Stunden bei ihm angekommen. Es ist großartig hier! Bisher ist auch alles gut verlaufen. Diese Reise war definitiv das Richtige.
Also ... ich melde mich wieder, bis dann! Oh, und Merle: Hier ein Gute-Nacht-Kuss für heute Abend." Ich tat, als würde ich die Kamera küssen und beendete genau in dem Moment das Video. Für eine kurze Es-geht-mir-gut-Mitteilung reichte das vollkommen aus, also sendete ich das Video an meine Familie.
Während ich das Video aufgenommen hatte, war Aaron in den Raum gekommen und hatte einmal in die Kamera gewunken.
Jetzt ließ er sich neben mich auf das Bett fallen und sah mich an.
„Na, alles okay?", grinste er. Er schien gute Laune zu haben.
„Was ist mit Henry?", fragte ich, weil ich die Frage einfach nicht länger für mich behalten konnte. Ich musste wissen, was passiert war. Und warum.
Aaron seufzte.
„Henry war auf seiner ersten Patrouille. Du kannst es dir wie eine Prüfung vorstellen. Er hat nicht bestanden. Selbst wenn du ein einfacher Mensch gewesen wärst oder ein Wolf aus einem anderen Rudel, hätte er dich nicht ohne den ausdrücklichen Befehl eines Alphas angreifen dürfen. Von dir ging keine Gefahr aus", erklärte Aaron. Ich erkundigte mich nach den Konsequenzen, die erwähnt wurden und Aaron redete weiter: „Er hat die Prüfung nicht bestanden und wird sie daher wiederholen müssen. Allerdings muss er darauf ein Jahr warten. Bevor er diese Prüfung nicht bestanden hat, darf er nicht mit auf Missionen gehen. Und glaub mir, das nagt wirklich an ihm. Gerade für einen Omega wie ihn ist es wichtig, Anerkennung für erfolgreiche Missionen zu erhalten, weil er sonst in der Hierarchie immer weiter nach unten rutscht." Das klang zwar einerseits hart, andererseits aber viel harmloser als ich es mir ausgemalt hatte und in meinen Augen auch gerechter.
„Und weil er dich grundlos angegriffen hat, habe ich ihm verboten, jemals wieder allein patrouillieren zu dürfen. Für Rudel-Aufträge darf er nur noch in Begleitung eines anderen Wolfes das Lager verlassen, jedenfalls solange er in diesem Rudel bleibt. Wenn er seine Mate findet und in ihr Rudel wechselt, sieht das alles womöglich ganz anders aus, da zählen Vergehen aus vorherigen Rudeln dann meist nicht mehr", erklärte Aaron weiter und ich nickte. Okay, soweit hatte ich verstanden.
„Aaron, woher weißt du, dass seine Mate eine Sie wird? Du sagtest, bei mir wusstest du vorher auch nicht, ob ich männlich oder weiblich bin. Es hätte beides sein können."
„Da hast du recht, und theoretisch steht bei Henry auch noch nichts fest, aber bisher ist er ausschließlich an Mädchen interessiert und ich bezweifle, dass sich das in den nächsten zweieinhalb Jahren ändern wird. Bei mir war das etwas anderes. Man kann in den meisten Fällen an der Sexualität des Wolfes erkennen, welches Geschlecht der oder die Mate haben wird. Und ich fühlte mich eben zu beiden Geschlechtern hingezogen, was meine Aufregung und meine Neugier also ehrlich gesagt nur noch gesteigert hat. Für mich stand eben nicht nur ein Geschlecht zur Auswahl, sondern zwei und somit wusste ich schon mal weniger über meinen zukünftigen Mate, als der Großteil der restlichen Wölfe." Aaron war also bisexuell. Nicht dass ich das schon irgendwie erwartet hatte bei den Andeutungen, die er bisher gemacht hatte, aber jetzt hatte ich die Bestätigung. Und irgendwie fühlte ich mich damit nicht gerade wohl.
„Warst du eher zur weiblichen Seite hingezogen oder eher zur männlichen?", fragte ich und versuchte, möglichst beiläufig zu klingen. Er war schließlich zu mir gekommen, also hatte ich eigentlich keine Konkurrenz zu befürchten, aber mich beschlich die Angst, er könne von meinem Geschlecht enttäuscht sein.
„Es war sehr ausgeglichen", sagte Aaron und zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ich hatte keine Präferenzen. Aber das spielt auch gar keine Rolle, weil ab jetzt gibt es für mich sowieso nur noch dich!" Er beugte sich blitzschnell vor und hauchte mir einen zarten Kuss auf die Wange. Die Stelle wurde augenblicklich warm unter seinen weichen Lippen und in meinem Körper breitete sich ein angenehmes Kribbeln aus. Ich spürte, wie meine Wangen erröteten. Mein Kopf war wie leer gefegt. Ich konnte nur noch an seine Lippen auf meiner Haut denken. Wie schaffte er es jedes Mal, mich so aus dem Konzept zu bringen?
Ganz so als sei nichts gewesen, lehnte Aaron sich wieder zurück.
„Sag mal, hast du Hunger?" Er grinste.
DU LIEST GERADE
Plötzlich Wolf
WerewolfMiles führt ein normales Leben. Er hat einen besten Freund und eine Familie, die ihn liebt. Eigentlich könnte er kaum glücklicher sein. Seine einzigen Sorgen sind die Anforderungen des letzten Schuljahres und die Frage, was er danach mit seinem Lebe...